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Jugendstil-Festival Bad Nauheim: Marion Dierschke schneidert selbst | ABC-Z

Die Dame des Hauses empfängt ihre Gäste mit einem Lächeln unter einem mit einer großen Stoffblume verzierten Rembrandt-Hut. Marion Dierschke trägt ein Kleid aus einem weich fallenden Stoff in einem cremefarbenen Grundton mit schmalen Streifen in gedeckten Farben wie helles Braun und mildes Grün. Ins Auge fallen die asymmetrisch gesetzten ausladenden Kragen mit jeweils drei Knöpfen, wobei der rechte Kragen auf Brusthöhe aufliegt, der linke dagegen knapp darüber. Ihren Hals ziert ein feines Collier mit 20 schwarzen, in Tropfenform geschliffenen Schmucksteinen, vermutlich Onyx. Die Arme bedeckt Dierschke mit bis an die Ellenbogen reichenden und farblich auf ihr Kleid abgestimmten Handschuhen aus Baumwolle.

Sie wirkt wie aus der Zeit gefallen. Einerseits. Andererseits passt ihr Gewand sehr gut in diese Tage. Jedenfalls in ihrer Heimatstadt: Bad Nauheim feiert am Wochenende wieder das Jugendstilfestival. Und Marion Dierschke wird abermals mittendrin sein. Die 67 Jahre alte Kurstädterin darf bei diesem Fest nicht fehlen. Eine Wegbegleiterin bescheinigt Dierschke, sie brenne für die Mode dieser Kunst-, Architektur- und Designbewegung, die grob gesagt von 1890 bis 1914 dauerte und modisch weit darüber hinaus ausstrahlt.

Original-Mode aus der Jugendstil-Ära

Die Modegruppe des örtlichen Jugendstilvereins tritt selbst in Bekleidung im Stil jener Tage auf und stattet Besucher entsprechend aus. Manches davon ist noch original, was auch für Handschuhe, Hüte und weitere Accessoires gilt. Doch viele andere Stücke haben die Frauen der Gruppe selbst genäht, allen voran Dierschke. Sie hat in den vergangenen Jahren schon Dutzende Stücke gefertigt, und jährlich kommen zwei bis drei Gewänder hinzu, wie sie berichtet.

Originale: Mehr als 100 Jahre alte Jugendstil-AccessoiresMaximilian von Lachner

Als Bad Nauheimerin ist sie schon als Kind mit dem Jugendstil in Berührung gekommen – etwa durch die Badeanlagen und später durch Jugendstilvasen in der Galerie ihrer Eltern an der Mittelstraße. Bis Dierschke aber ihre Leidenschaft für die Mode jener Tage entwickelte, dauerte es noch mehrere Jahre. Sie spricht von einem organischen Prozess: angefangen von ihren Kindertagen, in denen sie für ihre Puppen schneiderte, über den Handarbeitsunterricht in der Schule bis hin zum Studium der Kunsterziehung in Mainz, wo sie im Examen die Kostüme und das Bühnenbild für Salome von Oscar Wilde entwarf – einem Jugendstilstück, wie sie hervorhebt. Überdies hat sie ein handwerkliches Vorbild im eigenen Zuhause gehabt: „Meine Mutter hat für uns früher immer Kleider genäht.“

Nachdem sie selbst Mutter geworden war, das erste ihrer fünf Kinder kam schon in der Endphase ihres Studiums zur Welt, griff Marion Dierschke selbst zu Stoff und Schere, Nadel und Faden und nähte Kleidungsstücke, zum Beispiel für die an der Freien Waldorfschule Wetterau beliebten Klassenspiele. Das erste Jugendstilkostüm für solch ein Ereignis nähte sie für ihren zweiten Sohn, wie sie sich erinnert. Und in jenen Tagen entflammte sie für diese Mode.

Zierrat: Ein Alltagskittel für kleine Jungen
Zierrat: Ein Alltagskittel für kleine JungenMaximilian von Lachner

Was begeistert sie an der Jugendstil­bekleidung? „Die Mode kam in der Endphase der Bewegung der modernen sehr nahe“, sagt Dierschke, die selbst an der Waldorfschule in der Kurstadt unterrichtet und mit Jugendlichen dort geschneidert hat. Im Laufe der Jahre sei die prägende Sanduhr-Silhouette in den Hintergrund getreten und von einem geraden Schnitt abgelöst worden. Überdies begeistert sie, „wie viel Mühe man sich damals gemacht hat, Kleidung schön zu gestalten“. Und das grundsätzlich unabhängig von der gesellschaftlichen Schicht. Als Beleg holt sie einen einfachen Kittel aus heller Baumwolle hervor. „Jungs trugen bis zum Alter von drei Jahren über der Windel nur solche Kittel“, erläutert sie. Das sei praktisch gewesen – „da konnten sie schneller aufs Klo“, sagt sie und lacht. Trotz allen Sinns für das Praktische hat jemand den Kittel an Hals und den Ärmeln mit einer Bordüre verziert.

„Damit liefen die Frauen wie eine Ente“

Was Frauen trugen, lässt sich nicht so einfach beantworten: „Meinen Sie eine Bauersfrau in Bad Nauheim, die Frau eines Kaufmanns, die eines Bankiers oder eine Doktorengattin?“ Die Frau ei­nes Kaufmanns sei mit einer Bluse und einem einfachen Rock gut gekleidet gewesen. Eventuell habe sie dazu noch eine Weste getragen, und eine Schleife an der Bluse. Außer im Fall von Bäuerinnen habe eine Korsage stets dazugehört. „Sonst wäre die Sanduhr-Silhouette nicht möglich gewesen.“

Die Leitlinie lautete demnach: Brust raus und den Po ebenso – für Letzteres habe die Korsage gesorgt. „Damit liefen die Frauen wie eine Ente“, sagt Dierschke, ahmt die Haltung nach und lacht. Das sei ungesund gewesen, und Ärzte hätten auch davor gewarnt. Sie selbst pfeift auf Korsagen.

Männer hatten es da einfacher. Dies zeigt etwa ein Club-Sakko nebst Hose, die sie für ihren Mann geschneidert hat. Den Leinenstoff hat sie bei Weyrauch gefunden. Das Kaufhaus hat ihn zwar als Taschenstoff im Angebot – „es ist aber das richtige Material und Muster“.

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