Kultur

„Smartphones machen uns nicht smart“ | ABC-Z

Als Unternehmer ausgerechnet in den Smartphone-Markt einzusteigen, ist in unseren Tagen eine ziemlich wahnsinnige Idee. Fast jeder hat schon ein Handy; die Geräte sind sich allesamt ähnlich; und dominiert wird das Geschäft von riesigen Unternehmen aus Amerika und Asien – Apple, Samsung oder Huawei – mit Jahrzehnten an Know-how und komplexen, weltumspannenden Lieferketten.

Carl Pei hat es trotzdem getan. „Weil ich es wollte“, sagt er – und weil er befürchtet habe, dass Smartphones so „langweilig“ blieben wie heute, wenn er nichts dagegen tue. Pei ist mit Technologie groß geworden, hatte als Erster in seiner Schule einen iPod. „Dann kam das iPhone: eine revolutionäre Produkterfahrung. Aber je größer die Konzerne wurden, desto weniger Risiken gingen sie ein.“ Kinder von heute hätten ein ganz anderes Bild von Apple, dem zweitgrößten Konzern der Welt, als er es einst hatte.

Nothing heißt das Start-up, das Pei 2020 gründete und das die Produktlangeweile durchbrechen soll. Gerade haben Investoren es mit 1,3 Milliarden Dollar bewertet. Pei will den Markt aufmischen, nicht vom Silicon Valley oder von Shen­zhen aus. Nothing sitzt in London. Dort habe er die freie Auswahl an Talenten, sagt Pei. „Wenn Sie in Großbritannien für ein Elektronikunternehmen arbeiten wollen, können Sie zu Dyson gehen, oder Sie kommen zu uns.“ Nothing könne die „schlauesten und ambitioniertesten jungen Leute in Europa“ anheuern. Zuletzt seien Leute von Apple gekommen.

Von Nokia nach China

Peis Biographie folgt sehr eng der Geschichte des globalen Mobilfunkmarktes. Er fing sein Berufsleben als Praktikant bei Nokia an. Der finnische Konzern war mal der unschlagbar wirkende Champion in der Welt der Mobiltelefone. Nokias goldene Ära nach der Jahrtausendwende war die letzte Phase, in der Europäer eine nennenswerte Rolle auf diesem Markt spielten. Die Finnen wurden vom Aufkommen der Smartphones kalt erwischt, 2013 wurde die Handysparte an Microsoft verkauft.

Zu diesem Zeitpunkt war Pei schon nicht mehr da. 2011 kehrte er in sein Geburtsland China zurück – und folgte so der Verlagerung der globalen Smartphone-Lieferkette in das Reich der Mitte. Dort arbeitete er für einen der großen Elektronikkonzerne, unter dessen Dach er 2013 die Smartphone-Marke Oneplus mitgründete. Damals war er 24 Jahre alt. Während Oneplus in Europa mit Datenschutzskandalen von sich reden machte, wurde die Marke in China Kult.

Seit 2020 versucht Pei es mit Nothing auf eigene Faust. Er ist sich der Herausforderung bewusst, ein Smartphone-Start-up aufzubauen. „Es gab in den letzten 15 Jahren mehrere Versuche, die alle gescheitert sind“, sagt er selbst. Das No­thing-Team analysierte zunächst, wo die Fallstricke liegen. Der erste Schluss: Die anderen Start-ups hätten sich darauf konzentriert, „ein tolles Produkt zu haben, und dabei vergessen, was es sonst braucht: Lieferkettenmanagement, Qualitätskontrolle, Industrieproduktion.“ Pei begann also damit, erst einmal die Infrastruktur aufzubauen. Doch die Zulieferer hatten nicht gerade auf ein neues Smartphone-Unternehmen gewartet. Nothing fand keinen Produzenten, selbst als es sich zunächst darauf beschränkte, erst einmal nur Kopfhörer zu produzieren. Seine Gesprächspartner, berichtet Pei, hätten gesagt: „Es gibt 3000 Kopfhörermarken auf Amazon. Warum sollte euer Produkt funktionieren?“ Nothing musste zunächst auf Produzenten der untersten Qualitätsstufe zurückgreifen und schickte eigene Ingenieure in die Fabriken, um den Standard zu sichern. Ein Jahr nach den Kopfhörern folgte 2022 ein erstes Handy, das „Phone (1)“.

Indien ist einer der wichtigsten Märkte

Die zweite Frage, die sich Pei und seine Leute stellten: Wie kann man in einem so reifen Markt als Neuling herausstechen? Pei entschied sich fürs Design. „Weil ich die Designs, die es auf dem Markt gab, nicht sehr inspirierend fand – und weil es schnell geht.“ Um sich technologisch abzusetzen, hätte Nothing erst viele Jahre in Entwicklung stecken müssen.

Nothings Vorzeigeprodukt ist ein Smartphone mit dem minimalistischen Namen „Phone (3)“. Gebaut wird es größtenteils in Indien, das Land ist heute auch einer der wichtigsten Absatzmärkte. Das Handy sticht mit seiner Rückseite im Industrie-Chic tatsächlich optisch heraus. Das Design polarisiert, genau so, wie Pei es will. Nichts sei schlimmer, sagt er, als Mittelmaß, wenn das Produkt also weder geliebt noch gehasst werde.

Die Geräte haben in ihrem Gehäuse Glyphen verbaut, die in unterschiedlichen Mustern aufleuchten, um Benachrichtigungen darzustellen. Das Betriebssystem, das auf Android aufbaut, ist minimalistisch gehalten. „Keine Bloatware“ solle es bei Nothing geben, also keine vorinstallierten Apps von Drittanbietern, die das System aufblähen: So hat es Pei einmal zusammengefasst.

Besonders revolutionär ist das „Phone (3)“ sonst nicht. Ein gutes, kein herausragendes Smartphone, so beschreiben es Testberichte. Die Nutzeroberfläche sieht schick aus, unter der Haube ist vieles gewöhnlich. Die Glyphen sind mehr Spielerei als Killer-Applikation. Pei ficht das nicht an. In Youtube-Videos bezieht er selbst Stellung zu Produkttests und gesteht manchen Punkt ein.

Die Suche nach dem Handy der Zukunft

Ist das Handy überhaupt noch ein Zukunftsmarkt, wenn mehr und mehr Menschen sich über ihre ausufernde Bildschirmzeit sorgen? „Mir geht es genauso“, sagt Pei. „Aber wir müssen uns bewusst sein, dass wir da in einer Echokammer leben. Die Daten zeigen, dass die Smartphone-Nutzung überhaupt nicht zurückgegangen ist.“ Sein Ziel, sagt Pei, sei, die Geräte wieder zu etwas zu machen, das zur Kreativität der Menschen beiträgt. „Es heißt zwar Smartphone, aber es macht uns weder ‚smart‘ noch glücklich.“ Mithilfe von Künstlicher Intelligenz soll das Betriebssystem in Zukunft individueller werden. Pei schwebt ein Übergang vor „von einem Betriebssystem für drei Milliarden Menschen hin zu einem Betriebssystem für einen Menschen“.

Wobei Pei Nothing gar nicht als „Smartphone-Unternehmen“ im herkömmlichen Sinn sieht, seine Ambitionen sind größer. 2026 will das Unternehmen ein neues Produkt herausbringen, das eigens auf die Nutzung von Künstlicher Intelligenz ausgelegt ist. An solchen Geräten tüfteln derzeit viele. Open AI hat dafür den iPhone-Designer Jonathan Ive verpflichtet. Sollte hier wirklich eine komplett neue Produktkategorie entstehen, ist das vielleicht die beste Chance dieses Start-ups: in einem aussichtslosen Wettstreit um das beste Smartphone nötiges Know-how aufzubauen – und dann in einer neuen Gattung vorzupreschen. Wie diese aussehen wird, weiß heute noch keiner so genau. Erste Versuche von Start-ups, ein reines „AI device“ zu verkaufen, sind krachend gescheitert.

In der Zwischenzeit muss Nothing im Smartphone-Markt mit harten Bandagen kämpfen. Zwar wachsen der Umsatz und die Produktpalette. Der Marktanteil liegt nach eigener Aussage aber bloß bei 0,1 Prozent. Und die Marge ist bisher winzig. Pei will das ändern. Das „Phone (3)“ kommt hochwertig daher, mit einem Preis von 799 Euro kostet es allerdings auch 150 Euro mehr als das Vorgängermodell „Phone (2)“.

„Europäische Unternehmen sind nicht sehr ambitioniert“

Alternative Einnahmequellen bergen Risiken. Vor Kurzem handelte sich das Unternehmen Ärger mit seinen Fans ein, als es auf günstigeren Modellen Apps von Meta vorinstallierte – eine übliche Vorgehensweise, um Umsatz zu generieren, aber ein Bruch mit dem Versprechen eines sauberen Betriebssystems. Die Episode zeigt, wie die Realität des Marktes Nothing zu Kompromissen zwingt. Das Unternehmen musste zurückrudern und die Deinstallation der Apps ermöglichen.

Gründer Pei macht keinen Hehl daraus, was er von dem nach seiner Ansicht vorherrschenden europäischen Arbeitsethos hält. „Europäische Unternehmen sind nicht sehr ambitioniert“, sagt er. Von den 850 Nothing-Mitarbeitern erwarte er mehr. „Wir wollen hier eines der weltbesten Unternehmen bauen. Das ist nichts für jeden.“ Mancher sei besser beraten, fügt Pei hinzu, für eine Supermarktkette zu arbeiten.

Mit frischem Investorengeld kann No­thing nun an der nächsten Idee tüfteln – und sich daran freuen, die großen Wettbewerber ein bisschen zu ärgern. Die cleverste Marketingstrategie der Branche hat das Unternehmen schon jetzt, mit einer direkten Ansprache der Kunden in Blogs und Youtube-Videos. Einmal sprach Carl Pei in so einem Video über ein Gerücht: Große Techunternehmen hätten Nutzer dafür bezahlt, im Netz vor Nothing-Produkten zu warnen. „Ich bin ziemlich glücklich, dass das passiert“, sagte ein schelmisch grinsender Pei. „Unternehmen, die 150 Mal größer sind als wir, haben Angst vor uns.“

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