„Palestine 36“, „Sacrifice“ und „Hedda“ beim Filmfest Toronto | ABC-Z

Der 7. Oktober 2023 ist eines jener Daten, von denen die Suggestion einer historischen Zäsur ausgeht – als zählte das Davor nun weniger, während die Gegenwart intensiv auf den Tag bezogen wird, an dem die Hamas im südlichen Israel ein Massaker anrichtete und damit den Krieg provozierte, der nun in Gaza im Gang ist. Zugleich aber haben sich seither auch die Versuche intensiviert, einen allgemeineren Anfangspunkt zu finden, von dem aus der ganze Konflikt in der Region besser zu begreifen ist. Der Film „Palestine 36“, der vergangene Woche beim Toronto International Film Festival (TIFF) Weltpremiere hatte, macht schon mit seinem Titel deutlich, dass es ihm um eine entsprechende Setzung geht. Wer verstehen will, warum heute zwei Lager einander zu großen Teilen so unversöhnlich gegenüberstehen, muss in die Zeit der modernen Vorstaatlichkeit zurückgehen, in die Zeit vor dem ersten Teilungsplan für das Gebiet „vom Fluss bis zum See“.
In einer der ersten Szenen ist Jeremy Irons zu sehen, der die Gründung eines Radiosenders in Palästina feiert. Er vertritt die britische Krone, damals immer noch Kolonialmacht. Christen, Juden und Muslime sollen in diesem Sender gleichermaßen eine Stimme haben. Es ist das Bild einer Ökumene, die sich allerdings nicht hält. Denn nicht nur rund um das Dorf Al-Basma im heutigen Westjordanland entstehen gerade zahlreiche Kibbuze. Araber, die in der Gegend zu Hause sind, blicken skeptisch, aber noch ohne großen Argwohn auf neue Nachbarn, von denen sie nicht so recht begreifen, woher sie alle kommen, und warum. Um diese grundlegende Tatsache konkurrierender Besitzverhältnisse herum entwickelt „Palestine 36“ in Manier eines populären Geschichtsfilms eine Urszene mit deutlichem Blick auf das Heute. Es ist ein parteiisches Panorama. Alle wichtigen Filmförderungen der Region, von Jordanien und Qatar bis zum noch jungen, aber schon maßgeblichen Red Sea Fund aus dem schwerreichen Saudi-Arabien haben sich beteiligt, um einen Blockbuster zu ermöglichen, der mit größtmöglicher Wirkung eine arabische Perspektive auf das Jahr 1936 in Palästina geltend macht.
Die Regisseurin Annemarie Jacir, geboren 1974 in Bethlehem in den 1967 von Israel besetzten Gebieten, hebt zudem noch eine spezielle Gruppe hervor: Frauen sind herausragende Anwältinnen der palästinensischen Sache. Federführend ist eine Journalistin namens Khuloud, die in Oxford studiert hat und ihre Artikel nur unter einem männlichen Pseudonym veröffentlichen kann. Jacir konstituiert so etwas wie ein idealisiertes erstes Aufgebot für alle späteren Versuche, der palästinensischen Sache eine politische Vertretung zu verschaffen. Khulouds Frauengruppe, so wird es überdeutlich, wäre dafür besser geeignet als später die PLO, die heutige Palästinensische Autonomiebehörde oder gar die Hamas. Eine Botschaft, die Saudi-Arabien für die eigene Gesellschaft vermutlich nicht in den Vordergrund rücken würde.
Dass „Palestine 36“ in Toronto lief und nicht schon davor in Venedig oder gar in Cannes, auf der wichtigsten Bühne des Weltkinos, ist ein wenig überraschend und mag vielleicht damit zu tun haben, dass die beträchtliche Starriege – von Hiam Abbas bis Yasmine Al Massri – in Europa eben doch nicht so geläufig ist. Das TIFF, das in diesem Jahr seine 50. Ausgabe feierte, ist dezidiert das weltgesellschaftlichste unter den großen Festivals. Es wendet sich an eine kosmopolitische Stadt, deren Bevölkerung, mit deutlich sichtbaren Zugehörigkeiten in aller Welt, auch in Scharen zu den Vorführungen kommt. Und es wendet sich jedes Jahr auch ein wenig an die Konkurrenz im alten Europa und macht immer wieder die eine oder andere Trophäe geltend: also Filme, die nur aufgrund arkaner Umstände erst auf dem letzten der großen Filmereignisse der Saison auftauchen.
Der vielleicht lustigste Film des TIFF
So profitierte das TIFF auch von dem Umstand, dass Chris Evans derzeit ein Hollywood-Star der Stunde ist – was sich aber in vollem Umfang erst erschließt, wenn man nach „Materialists“ und „Honey Don’t“ (beide derzeit in Deutschland im Kino) auch noch „Sacrifice“ gesehen hat, den vielleicht lustigsten Film beim 50. TIFF. Romain Gavras, Sohn von Constantin Costa-Gavras, dem griechisch-französischen Doyen des klassischen Politthrillers, macht Ernst mit dem Untergang der Welt. Bei ihm tragen auch noch die Klimaschützer zur Apokalypse bei, nämlich eine Gruppe von jungen Leuten, die sich einen Ausweg nur durch ein atavistisches „Opfer“ erwarten: drei vom Schicksal bestimmte Menschen müssen in einen Vulkan springen, und wenn sie dazu nicht bereit sind, müssen sie in das siedende Erdinnere gestupst oder gestoßen werden. Unfreiwillige Kandidaten finden sich auf einem typischen Wohltätigkeitsevent, wo Superreiche ihre Aktivitäten grünwaschen – Vincent Cassel gibt mit Genuss einen Reserve-Elon. Anya Taylor-Joy spielt die Anführerin der Ökoterroristen und Chris Evans einen verunsicherten Hollywood-Star, der in seiner Einfalt letztlich alles richtig macht, um eine grelle Satire zu einem starken Finale zu bringen. Romain Gavras hat viele Musikvideos gemacht, das merkt man „Sacrifice“ auch an, der mit einem guten Sinn für Effekte erzählt ist.

Das TIFF hat, anders als Berlin, Cannes, Locarno oder Venedig, keinen Wettbewerb. Das führt manchmal dazu, dass Filme, die sich geläufigen Rubrizierungen (Regiekunst, Arthouse, Mainstream) entziehen, eine etwas größere Chance auf Aufmerksamkeit haben. Der auffälligste Film zwischen allen Stühlen war dieses Jahr vielleicht „Hedda“ von Nia DaCosta, eine Adaption des berühmten Dramas von Ibsen, eines bürgerlichen Stoffs aus dem späten 19. Jahrhundert in der Interpretation einer afroamerikanischen Starregisseurin, die sich mit dem Horrorfilm „Candyman“ für höhere Aufgaben empfahl. Der Superheldenfilm „The Marvels“ gilt allerdings als Misserfolg, sodass sie nun eine Ebene tiefer, aber auch persönlicher neu ansetzen kann – für die andere Karriere hat sie inzwischen auch „28 Days Later: The Bone Temple“ gemacht, der Anfang 2026 in die Kinos kommt. „Hedda“ ist für Nia DaCosta offensichtlich ein persönliches Zwischenwerk, für das Hollywoodstudio Metro-Goldwyn-Mayer (inzwischen eine Abteilung von Amazon) handelt es sich um ein Prestigeprojekt.
Die entscheidende Veränderung gegenüber der Vorlage von Ibsen hat auch einen deutschen Aspekt: Die erotische wie intellektuelle Bezugsfigur für Hedda Gabler ist in diesem Fall eine Frau, die von Nina Hoss gespielt wird. Im Zusammenspiel mit Tessa Thompson, die aus der Marvel-Welt kommt und wie die Regisseurin schwarz ist, entwickelt sich eine faszinierende Dynamik – vor dem Hintergrund einer opulenten Period-Welt, die offiziell irgendwo in England Mitte des 20. Jahrhunderts zu verorten wäre. Für Nina Hoss ist ihre tragische und auf eine interessante Weise monumentale Rolle einer jener seltenen Brückenschläge zwischen Welten, auf die viele Stars oft vergeblich hoffen.
Durch die großen Streamer ist aber ein neuer Typus von Filmen entstanden, in denen Autorenvision sich eher verwirklichen kann als im „richtigen“ Kino. „Hedda“ sollte schon bald auf Amazon auftauchen. Bei „Sacrifice“ ist mit einem Kinostart zu rechnen, und „Palestine 36“ wird mindestens bei den arabischen Filmfestivals, die es in vielen Städten in Deutschland regelmäßig gibt, eine prominente Rolle spielen. Für ein Verständnis der Gegenwart ist der Film von Annemarie Jacir unumgänglich. Nicht weil seine Deutung unanfechtbar ist, sondern weil diese bisher im Kino unterrepräsentiert war.