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Russische Kriegsgefangene: Gezeichnet für das ganze Leben | ABC-Z

E in großer, schlaksiger Mann mit kurz geschnittenen Haaren steht in einer verschneiten Landschaft und bekommt einen Stoffbeutel gereicht. Er holt einen roten Apfel heraus. „Das erste Obst seit einem Jahr“, sagt er und beißt hinein. Seine Augen weiten sich. Der Moment ist auf Video festgehalten. Viele Ukrainer haben diese Szene eines Gefangenenaustausches gesehen. Der Moment war wie ein zweiter Geburtstag für ihn, sagt Maxim Kolesnikow. Er ist der Mann mit dem Apfel.

Doch bis er wieder Obst essen durfte, musste er lange warten und viel ertragen. Die Szene mit dem Apfel ist rund zwei Jahre her und noch immer seien viele Ukrai­ne­r – sowohl Soldaten als auch Zivilisten – in russischer Gefangenschaft. Ein Teil von ihnen würde wohl nie zurückkehren. Deshalb sei es ihm wichtig, darüber zu sprechen sagt er.

Am vergangenen Sonntag hatten Russland und die Ukrai­ne einen umfangreichen Gefangenenaustausch beendet. In drei Tagen wurden 1.000 Gefangene gegenseitig ausgetauscht. Darauf hatten sich die Parteien bei Gesprächen in Istanbul am 16. Mai geeinigt.

Bei den Gefangenen handelte es sich sowohl um Soldaten als auch um Zivilisten. Der Umfang ist bedeutsam. Bis März waren nach ukrainischen Angaben 4.306 Ukrainer aus russischer Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt. Häufig sehen die Freigelassenen dabei so schlecht aus, wie der Mann mit dem Apfel – oder schlimmer.

Nicht mehr der Alte

In einem Kyjiwer Lokal hat sich Kolesnikow um die Mittagszeit eine Pause genommen. Er arbeitet inzwischen im Management bei der Post. Das Büro sei nicht weit. Schlank ist er immer noch, aber die Haare sind länger und er ist nicht mehr so blass wie in dem Video. Doch er sei nicht mehr der Alte, sagt er und zeigt Fotos auf dem Smartphone – von vor seiner Gefangenschaft.

Man erkennt sein Gesicht sofort, aber der Mann auf dem Foto hat eine breite Brust und kräftige Oberarme, sein T-Shirt spannt. „Ich habe regelmäßig im Gym trainiert“, erzählt er. Doch die Muskeln kommen nicht zurück. Die Unterernährung habe seinen Stoffwechsel gestört. „Ich habe in der Gefangenschaft 32 Kilogramm verloren.“ Nun habe er eine Muskelatrophie in den Beinen.

Maxim Kolesnikow ist 47 Jahre alt. Vor Russlands großangelegter Invasion der Ukraine vor mehr als drei Jahren hat er im Marketing bei einem Finanzdienstleister gearbeitet. Geboren ist er in der seit 2014 besetzten Industriemetropole Donezk. Mit seiner Frau und den beiden Töchtern lebte er in Kyjiw. „Am 24. Februar 2022 habe ich gleich meinen Rucksack gepackt“, erinnert er sich. Er wusste, dass er zur Armee eingezogen werden würde. Schon 2015 war er für ein Jahr mobilisiert worden. Er hatte Erfahrung. „Ich wusste, dass es ein langer Krieg werden würde.“ Seine Frau und die beiden Töchter flüchteten nach Spanien.

Maxim Kolesnikow: Hat seit seiner Freilassung mehrere Operationen hinter sich



Foto:
Marco Zschieck


Seine Brigade wurde eingesetzt, um den russischen Vormarsch auf Kyjiw zu stoppen. Am achten Kriegstag wurde Kolesnikows Einheit abgeschnitten. Ein paar Tage später begannen die russischen Angreifer ihre Stellung zu stürmen. Beim Beschuss mit einem Mehrfachraketenwerfer wurde er durch Splitter am Knie verletzt. Nach mehreren Tagen Kampf musste seine Einheit aufgeben. „Wir hatten viele Tote und Verwundete zu beklagen.“

Unter Putins Kommando

Die Einheit, die Kolesnikow gefangen nahm, sei eine Elitetruppe gewesen. „Sie trugen neue Ausrüstung und Waffen. Sie waren nicht sehr emotional.“ Seine Hände seien mit einer Plastikfessel zusammengebunden worden. „Der Offizier sagte uns, er halte sich an die Genfer Konvention.“ Am nächsten Tag seien die Gefangenen an die Rosgwardia übergeben worden. „Die haben sofort angefangen uns zu schlagen.“

Von März bis Juni durften die Gefangenen kein einziges Mal an die frische Luft

Diese Truppen zur Aufstandsbekämpfung sind unabhängig von der russischen Armee und unterstehen direkt Wladimir Putin. Mit einem Gefängnisbus habe man sie sechs Stunden nach Belarus gefahren und in der Lagerhalle einer alten Fabrik eingesperrt. „Wir mussten uns alle an einer Wand aufstellen. Dann wurden wir geschlagen.“ Medizinische Hilfe habe es nicht gegeben.

Nach zwei Tagen wurden die Gefangenen in ein früheres Untersuchungsgefängnis in der russischen Region Brjansk gebracht. Dort seien nur Ukrainer eingesperrt gewesen. Mehrheitlich Zivilisten. „In meiner Zelle für zehn Personen waren vier Soldaten und zehn Zivilisten. Der älteste 65 Jahre alt.“ Von März bis Ende Juni durften sie kein einziges Mal an die frische Luft gehen.

Er selbst sei viermal verhört worden. „Ein Staatsanwalt interessierte sich für meine Teilnahme an den Protesten auf dem Maidan 2014.“ Bei zwei Verhören durch den Geheimdienst sei nach Nuklear- und Biowaffen gefragt worden. „Wenn ihnen die Antworten nicht gefielen, haben sie mich mit dem Gummiknüppel geschlagen.“ Schläge gab es ohnehin jeden Morgen und Abend. Auch Elektroschocks wurden eingesetzt. Einem Mitgefangenen seien Elektroden an die Hoden angeschlossen worden. Aber der wolle darüber nicht öffentlich sprechen.

Voller Überraschungen

„Es wurde erst etwas einfacher, nachdem sie die Liste mit unseren Namen an das Internationale Komitee vom Roten Kreuz geschickt hatten.“ Erst dann durften die Gefangenen auch einen kurzen Brief an ihre Familien schreiben. „Nur, dass wir am Leben und in Kriegsgefangenschaft waren.“

Die Wachmannschaften wech­selten jeden Monat. „Im November waren es Tschetschenen. Sie haben uns wieder geschlagen. Wir durften nicht sitzen und nicht sprechen.“ Von seinem Austausch erfuhr er dann kurzfristig. In elf Monaten habe er kein einziges Mal einen Vertreter des Roten Kreuzes gesehen. An einem Grenzübergang in der Region Sumy war es dann am 4. Februar 2023 so weit: der Tag mit dem Apfel.

Die Rückkehr in die Freiheit sei für ihn voller Überraschungen gewesen. „Wir hatten ja keine Informationen außer hin und wieder der Propaganda im Ersten russischen Kanal.“ Er habe erwartet, dass Kyjiw völlig zerstört sei, stattdessen lief die Wirtschaft und die Supermärkte waren geöffnet. „Wochenlang habe ich Videos geschaut und versucht nachzuvollziehen, was alles passiert ist: die Versenkung des Kreuzers „Moskwa“, die Offensive in der Region Charkiw, die Befreiung von Cherson.“

Ein Video zeigt, wie ein russischer Soldat einen gefangenen Ukrai­ner mit einem Teppichmesser kastriert

Die Gefangenschaft und seine Verletzungen werden Maxim Kolesnikow sein Leben lang begleiten. „Ich habe Titanteile in meinem Knie. Ich kann nicht mehr rennen und nicht mehr springen.“ Nach seinem Austausch musste er mehrmals operiert werden. Nach einer Reha arbeitete er noch ein paar Monate im Hauptquartier seiner Brigade im Büro, bis er schließlich ausgemustert wurde.

104 Interviews

Er ist einer von Tausenden. Im März stellte die Menschenrechtsorganisation Amnesty International die Studie „Deafening Silence. Enforced disappearances, incommunicado detention and torture of Ukrainian prisoners by Russia“ (Ohrenbetäubendes Schweigen. Erzwungenes Verschwindenlassen, Isolationshaft und Folter ukrainischer Gefangener durch Russland) in Kyjiw vor. Die Ergebnisse seien für viele Ukrainer nicht überraschend, aber die internationale Gemeinschaft müsse das hören, sagte Veronika Welch, die Direktorin von AI Ukraine.

Der Bericht stellt fest, dass derzeit Tausende Ukrainer, sowohl Kriegsgefangene als auch Zivilisten, in Russland und den von Russland besetzten Gebieten gefangen gehalten werden. „Die meisten ukrainischen Kriegsgefangenen werden ohne Kontakt zur Außenwelt festgehalten und ihre Familien erhalten kaum Informationen über ihr Schicksal, ihren Status oder ihren Aufenthaltsort“, heißt es darin. 104 Interviews wurden für die Untersuchung geführt.

Die russischen Behörden gewähren internationalen Organisationen keinen Zugang zu ukrainischen Kriegsgefangenen. Damit verfolgen sie eine bewusste Politik, diese dem Schutz des Völkerrechts zu entziehen. „Fast alle von uns befragten ukrainischen Kriegsgefangenen gaben an, dass Folter systematisch und auf allen Ebenen stattfindet: bei der Aufnahme, wenn sie zum ersten Mal gefangen genommen werden, und während der gesamten Gefangenschaft.

Dazu gehören beispielsweise Folter mit Elektroschocks, sexueller Missbrauch und Weiteres“, sagte Welch. Russlands Behandlung ukrainischer Militärangehöriger und Zivilisten in Gefangenschaft verstoße gegen die Genfer Konventionen und alle Formen des Völkerrechts.

Verwandte demonstrieren in Tschernihiw für die Freilassung ihrer Lieben



Foto:
Efrem Lukatsky/ap


Nichts für schwache Nerven

Wie Russland Kriegsgefangene behandelt, ist in einem schmalen Buch zusammengefasst. Der ukrainische Ombudsmann für Menschenrechte, Dmytro Lubinets, stellte es in Kyjiw vor. Es trägt den Titel „Die Moskauer Konvention“ und stellt den Regeln der Genfer Konvention die russische Realität gegenüber. Es ist nichts für schwache Nerven.

Russland breche praktisch jede Regel: Gefangene werden geschlagen, ihnen werden Nahrung, Hygiene und medizinische Hilfe vorenthalten, sie dürfen keine Korrespondenz austauschen. All das ist natürlich verboten. Zu allem gibt es Aussagen Überlebender. „95 Prozent der Gefangenen werden gefoltert“, sagt Lubinets. „Wenn das ungestraft bleibt, wird es sich wiederholen.“

Häufig kommt es auch vor, dass die russischen Truppen keine Gefangenen machen. Immer wieder gibt es von Drohnen aufgenommene Videos, die zeigen, wie ukrainische Soldaten erschossen werden, nachdem sie sich bereits ergeben haben. Es gab auch Fälle, dass die russischen Soldaten sich selbst dabei filmten, wie sie Gefangene folterten und ermordeten. Ein Video zeigt, wie ein russischer Soldat einen gefangenen Ukrai­ner mit einem Teppichmesser kastriert.

Deutlich mehr Hinrichtungen

Anfang Februar meldete die UN-Menschenrechtsbeobachtungsmission in der Ukraine einen starken Anstieg gemeldeter Hinrichtungen ukrainischer Soldaten, die von russischen Streitkräften gefangen genommen worden waren. Seit Ende August 2024 verzeichnete die Mission 79 solcher Hinrichtungen bei 24 einzelnen Vorfällen.

„Diese Vorfälle geschahen nicht im luftleeren Raum. Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens in der Russischen Föderation haben ausdrücklich zu unmenschlicher Behandlung und sogar Hinrichtung gefangener ukrainischer Militärangehöriger aufgerufen“, sagte Danielle Bell, Leiterin der Mission. „In Verbindung mit umfassenden Amnestiegesetzen haben solche Aussagen das Potenzial, zu rechtswidrigem Verhalten aufzustacheln oder zu ermutigen.“

Das humanitäre Völkerrecht verbiete es, anzuordnen, dass es keine Überlebenden geben darf, einem Gegner damit zu drohen oder auf dieser Grundlage Feindseligkeiten zu führen. Die Erklärung, dass „keine Gnade“ gewährt wird, ist ein schwerwiegender Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht und ein Kriegsverbrechen.

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