„Das hat in dieser Form kein anderer geschafft“ | ABC-Z

„Einer fehlt noch“, ruft der Hallensprecher bei der Düsseldorfer Mannschaftsvorstellung in sein Mikrofon. Aber nicht irgendeiner: die Hauptperson des Sonntags – die deutsche Tischtennis-Ikone. Als Timo Boll als letzter Spieler in seinem letzten Gang als Profi durch ein Spalier aktueller und ehemaliger Weggefährten in die Ballsporthalle einläuft, bricht Jubel aus. Begeisterte Timo-Boll-Sprechchöre sind in seiner hessischen Heimat von den voll besetzten Zuschauerrängen zu hören.
Der Vierundvierzigjährige bekommt minutenlangen Applaus für seine einzigartige Karriere mit den vielen internationalen und nationalen Höhepunkten, die dann am Sonntag im Meisterschaftsfinale gegen Ochsenhausen um 16.34 Uhr mit einem Misserfolg im Doppel zum 2:3-Endstand und dem verpassten Titelgewinn ihren Abschluss gefunden hat. Der letzte Ballwechsel war ein Fehlschlag von Boll – einer, der schnell in den Hintergrund trat.
Ein paar Minuten später feierte das Publikum den scheidenden Star mit Ovationen und aufs Neue mit „Timo Boll“-Rufen. Ihm war anzusehen, wie nah ihm dieser Augenblick ging. Im Finalnachgang wurde Boll mit vielen Lobpreisungen und anerkennenden Worten bedacht, zum Beispiel von Bundestrainer Jörg Roßkopf und den Nationalspielern Dimitrij Ovtcharov und Patrick Franziska. Auch ein Video auf der Hallenleinwand krönte seinen stilvollen Abgang.
„Weltklasseleistung“ zum Abschluss
„Das war kein Alltag“, gewährte Boll einen Einblick in sein Gefühlsleben mit dem Gänsehautmoment. „So abgezockt man ist – das war heute etwas Besonderes. Der Moment fühlt sich seltsam und surreal an.“ In der Stunde seines großen Abschieds, in der Boll noch einmal eine Kostprobe seines Könnens gab – der ehemalige Doppelweltmeister Steffen Fetzner nannte Bolls Auftritt eine „Weltklasseleistung“ –, sprach der gebürtige Erbacher von einem sehr „emotionalen Moment“.
Im ersten Einzel des Endspiels hatte Boll eine knappe Niederlage in fünf Sätzen (9:11 im finalen Durchgang) gegen den Weltranglistendritten Hugo Calderano bezogen. Nach einem 0:2-Rückstand machte es der Linkshänder mit seinem Kämpferherz noch einmal spannend. Calderano zollte Boll seinen Respekt. „Timo ist Timo – jeder weiß, dass er zurückkommen kann.“ Nur in Zukunft wird das im Profigeschäft nicht mehr der Fall sein.
Seit 2007 spielte Boll für den deutschen Rekordmeister. Vor der Rekordkulisse von knapp 5000 Zuschauern in einem DM-Finale verfehlte Boll seinen 15. Meistertitel mit der Mannschaft. Er sei froh, „dass es noch mal zu diesem Showdown gekommen ist“, sagte Boll.
Vor den Augen seines guten Freundes Dirk Nowitzki und im Beisein seiner Familie setzte der Vierundvierzigjährige dort den Schlusspunkt als Profisportler, wo er von seinem achten bis zum 26. Lebensjahr fast jeden Tag trainiert hatte: in Frankfurt, unter seinem Entdecker und Förderer Helmut Hampl (ehemaliger hessischer Landestrainer), der ebenfalls vor Ort war und einen Kloß im Hals hatte.
„Hat in dieser Form kein anderer geschafft“
Knapp 30 Jahre währte die bemerkenswerte Erfolgsgeschichte Bolls, der in dieser für ihn sportlich so ertragreichen Zeit viermal die Weltrangliste anführte: zum ersten Mal 2003, als erster Deutscher überhaupt, und zum letzten Mal im Jahr 2018. Mit 37 Jahren war er damals der älteste Spieler, der in Konkurrenz zur Tischtennis-Übermacht China diese stolze Wegmarke vorweisen konnte.
Doch Deutschlands Ausnahmespieler mit insgesamt 174 Länderspielen hatte seine Zeitreise durch die Tischtenniswelt auf höchstem Niveau noch nicht beendet: Boll trotzte dem Alter und gewann mit fast 41 die Bronzemedaille bei der WM 2021 in Houston. Sein Gegner, der Schwede Truls Möregardh, war 19 – als Boll 1996 mit 15 Jahren in der Bundesliga debütierte, war sein WM-Halbfinalgegner, dem er in 3:4 Sätzen unterlag, noch nicht geboren.

In den Vereinigten Staaten wurde Boll, der mit dreieinhalb Jahren den ersten Schläger von seinem Vater Wolfgang erhalten hatte, zum ältesten Medaillengewinner in der fünfundneunzigjährigen WM-Geschichte. Seine Auszeichnung reihte sich ein in eine wahre Titelflut in all den Jahren.
Der deutsche Fahnenträger von Rio 2016 gewann vier Olympiamedaillen mit der Mannschaft, siegte achtmal im Einzel bei der EM – Boll ist damit Rekordeuropameister – und freute sich über sieben Champions-League-Titel mit Düsseldorf und Gönnern. Insgesamt verbrauchte der Linkshänder rund 20 Hölzer und 5400 Beläge in seiner Dienstzeit, die gepflastert war von Bestmarken.
Zwischen seinem ersten Turniersieg und seinem letzten 2024 lagen 8026 Tage – auch das ist ein Rekord in der Tischtennisgeschichte. Nowitzki verpasste Boll, der nach den Spielen in Paris im vergangenen Jahr seine internationale Laufbahn beendet hatte, liebevoll den Spitznamen „Kampfschwein“ aus dem Odenwald.
„Die größte Leistung ist mit Sicherheit, dass ich so lange ein Topspieler gewesen bin“, sagt Boll über sein außergewöhnliches Gesamtwerk. „Das macht meine Karriere so besonders, und das hat in dieser Form kein anderer geschafft.“ Als sein schönster Sieg bleibt ihm der Sensationserfolg 1998 bei der EM gegen den damaligen Weltmeister Jan-Ove Waldner in Erinnerung.
Über Jahrzehnte „auf einem Monsterniveau“
Boll war gerade einmal 17 Jahre alt und entwickelte sich dann von Jahr zu Jahr mehr zum Schreck der chinesischen Spitzenspieler. Steffen Fetzner bezeichnete ihn daher im Scherz als „Staatsfeind Nummer eins in China“. Im tischtennisverrückten Reich der Mitte war Boll ein Star. 2007 wählten ihn die Chinesen zum „attraktivsten Mann der Welt“ – vor David Beckham.
Über Jahrzehnte hinweg habe Boll „auf einem Monsterniveau“ gespielt, lobt Bundestrainer Jörg Roßkopf, der seinen früheren Mannschaftskameraden in Gönnern „den Roger Federer des Tischtennis“ nennt. Auch Boll verabschiedet sich nun nach seiner bemerkenswert langen Karriere als Leistungssportler in den wohlverdienten Ruhestand.
„Botschafter des deutschen Tischtennis“ wird eine neue Aufgabe von ihm sein. Eine, die ausgezeichnet zu Boll passt. Wie kein anderer steht er für Erfolg, Fair Play und Bescheidenheit. Kein Eklat überschattet die große Karriere des hohe Wertschätzung genießenden Vorzeigesportlers. Timo Boll habe „sicherlich Gold gewonnen in seinem Menschsein“, sagt Düsseldorfs Manager Andreas Preuß.