10 000 Zuschauer verfolgen Tölzer Leonhardifahrt – Landkreis München | ABC-Z

Die Nacht war kurz. Um 3 Uhr sei er aufgestanden, sagt Marinus Zenglere, Gespannführer aus Neufahrn bei Egling. Dafür erntet er gleich ein wenig Spott von seinen Begleitern, die neben dem Truhenwagen im Kurviertel von Bad Tölz stehen. „Werd’ scho hoiba viere g’wesen sein“, meint einer. In aller Herrgottsfrühe war es auf jeden Fall, als Zengerle begann, die Tiere auf seinem Pferdehof zu füttern, auszumisten und die französischen Percheron-Rösser dann für die Tölzer Leonhardifahrt zu putzen. Zu siebt sei man am Morgen im Stall gestanden, „mehr Leute als Pferde“.
Aber die Mühe hat sich gelohnt. Die Novembersonne leuchtet am Donnerstag bei der 170. Auflage der traditionellen Pferdewallfahrt von einem wolkenlosen Himmel. An vielen Häusern hängt die bayerische Rautenfahne, die Kirchenglocken läuten unermüdlich, das restliche Laub an den Bäumen leuchtet noch einmal in Gelb- und Rostfarben. Den Prozessionsweg vom Kurviertel über die Isarbrücke und durch die halbe Fußgängerzone, von dort auf den Kalvarienberg und zurück zur Marktstraße, dann weiter bis zur Mühlfeldkirche säumen gut 10 000 Zuschauer. Das frühe Aufstehen bereut Zengerle nicht. „Es ist einer der schönsten Tage im Jahr“, sagt er.
Christine Weichenrieder, die als Schalkfrau vom Truhenwagen der Stadt Bad Tölz herunterschaut, drückt dies noch euphorischer aus. „Ein geschenkter Tag“, sagt sie, „ein Traumtag.“ Vor ihr sitzen junge Frauen und kleine Mädchen, alle sind in schmucker Tracht gekleidet. Weichenrieder weist auf eine Besonderheit hin. Die Kopfbedeckungen reichten von der Kinderhaube über die Riegelhaube für frisch verheiratete Frauen bis zur Otterfellhaube, die sie selbst trage. Das sind alles „die Kopfbedeckungen der Stadt Bad Tölz, die historisch belegt sind“, sagt sie.
Die Tölzer Leonhardifahrt ist die größte Pferdewallfahrt im deutschsprachigen Raum und gehört zum immateriellen Kulturerbe der Unesco. „Für uns ist das der Abschluss im Jahr, wo man sich noch einmal besinnt, was das ganze Jahr über war“, sagt Zengerle. Im Vordergrund stehen Glaube und Religion, aber „Lehards“, wie die Wallfahrt im Volksmund heißt, ist noch mehr. Sie ist auch eine Art große Familienfeier für die Tölzer und die Menschen im Isarwinkel. Alle kommen zusammen, beten, essen, trinken, plaudern, treffen sich mal wieder. „Das ist unser höchster Feiertag“, sagt Weichenrieder.

Der Höhepunkt ist die Segnung der Gespanne – 71 sind es dieses Mal – auf dem Kalvarienberg. Der katholische Stadtpfarrer Peter Demmelmair weist in seiner Predigt darauf hin, dass lediglich sechs Prozent der Menschheit Zugang zu sauberem Trinkwasser habe. Von diesem Beispiel aus moniert er, dass in der deutschen Gesellschaft oft Unzufriedenheit herrsche, obwohl grundlegende Güter wie Nahrung oder Kleidung hier selbstverständlich seien.

Miesepetrig war Josef Janker in seiner Zeit als Tölzer Bürgermeister nie. Als die Gespanne durch den Khanturm hinauf zur Mühlfeldkirche übers Kopfsteinpflaster rumpeln, steht auch er unter den Zuschauern und grüßt alle zwei Minuten alte Bekannte. 20 Leonhardifahrten hat er auf dem Stadtratswagen in Hut und Zylinder miterlebt und weiß so manche Anekdote zu erzählen. Einmal, sagt er, sei der Wagen vor Wallfahrtsbeginn die Marktstraße hinuntergefahren, dabei habe der Engel am Kopfende bedenklich gewackelt. Ehe er herunterfallen konnte, habe er ihn auf den Schoß genommen und bis hoch zum Kalvarienberg in den Händen gehalten. Oder auch: Der damalige Ministerpräsident Edmund Stoiber habe einst anfragen lassen, ob er im Stadtratswagen bei der Leonhardifahrt teilnehmen könne. Die Antwort war ein klares Nein. Mitfahrende Gäste sind nicht erlaubt. Auch wenn sie Stoiber heißen.

Als „ein Hochamt bayerischer Kultur“ bezeichnet Bürgermeister Ingo Mehner die Leonhardifahrt beim Empfang für geladene Gäste im Pfarrheim Franzmühle. An den weiß gedeckten Tischen sitzen unter anderem Ilse Aigner, Präsidentin des Bayerischen Landtags, Hans-Joachim Heßler, Präsident des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs, und Stanislaus Prinz von Bayern, ebenso Delegationen aus den Partnerstädten Vichy und San Giuliano Terme, außerdem Vertreter der Special Forces der US-Armee, die einst in Tölz stationiert waren. Wer fehlt, ist Schauspielerin Maria Furtwängler. Sie sieht sich lieber Bad Tölz an.
Die Leonhardifahrt sei „seit Jahrhunderten identitätsstiftend“ für Bad Tölz und den Isarwinkel, sagt Bürgermeister Mehner
„Nirgends ballt sich Kultur in unserer Stadt und auch selten in Bayern so, wie an Leonhardi“, sagt Mehner. Die Wallfahrt sei „seit Jahrhunderten identitätsstiftend“ für Bad Tölz, den Isarwinkel und darüber hinaus. Ähnlich äußert sich Landtagspräsidentin Aigner. „Wenn man so einen Tag erleben darf, bei so schönem Wetter, in so schöner Stimmung, dann weiß man, was wir an unserem Land haben“, sagt sie. Bei der Leonhardifahrt stünden hinter den schmucken Trachten innere Werte wie Glauben, Wertschätzung, Solidarität und Achtsamkeit. „Für mich ist das ein echter Festtag.“

Als Aigner ihr Grußwort spricht, macht sich Max Gast aus Warngau mit seinen süddeutschen Kaltblütern langsam auf den Heimweg. „Die Frauen kehren noch im Bräustüberl ein, wir brauchen zwei Stunden bis nach Hause“, sagt der Gespannführer vom Kammerloher-Hof, der schon 81 Mal an der Leonhardifahrt teilgenommen hat. Gast selbst war 23 Mal in Tölz vertreten. Auch er ist um 3 Uhr früh aufgestanden. Wichtig an Leonhardi sei der Segen für Haus und Hof, für die Tiere, sagt er. „Damit das ganze Jahr wieder gut geht.“





















