Kultur

80 Jahre Kriegsende: Das Brautkleid meiner Großmutter | ABC-Z

In meinem Schrank hängt ein besonderes Kleid. Eigentlich weiß, ist es über die Jahre an manchen Stellen vergilbt, die Nähte lösen sich auf. Der Stoff ist rau, mit aufgestickten Blüten. Eingelassen in den Rock sind Stoffbahnen aus weißer Seide. Fallschirmseide, um genau zu sein.

Als ich das Kleid anprobiere, geht es mir bis zur Wade. Der Metallreißverschluss an der Seite drückt kühl auf meine Haut.

Meine Großmutter trug es bei ihrer Hochzeit im Jahr 1949. Auf einem Foto: mein Großvater in Frack und Zylinder, mit weißen Handschuhen. Meine Großmutter im Fallschirmseidenkleid, bei ihr bodenlang. Der Schleier war nur geliehen, für einen neuen reichte das Geld nicht. Dazu ein Kranz mit weißen Blüten.

Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.



Das Kleid hat eine Freundin geschneidert aus Stoffen, die ihr meine Oma gab. Darüber, woher die Fallschirmseide kam, habe ich mir als Kind kaum Gedanken gemacht. Ich mochte einfach, wie sie sich anfühlte, weich und glatt, fast samten.

Heute verstehe ich, sie stammt von einem britischen Fallschirm. Mein Großvater hatte sie von der Front per Post zur Aufbewahrung an meine Großmutter geschickt. Einige Kameraden und er hatten sich den Stoff des Schirms „aufgeteilt“. Eine Trophäe?

Welche Erinnerungen bewahrt dieses Kleid?

Wenn ich das Brautkleid im Schrank hängen sehe, stellen sich mir viele Fragen. Welche Erinnerungen bewahrt dieses Kleid? Wer waren meine Großeltern im Krieg? Und, zuallererst: An den Fallschirm war doch ein Soldat geschnallt? Ich weiß bis heute nicht, ob mein Großvater und seine Kameraden ihn tot vorfanden oder ihn erst am Boden töteten. Über die Herkunft des Stoffes wurde nie gesprochen. Für mich, die Enkelin, bleiben viele Familiengeschichten bruchstückhaft.

Opa schrieb meiner Großmutter lange Liebesbriefe von der Front, aus Italien, dem Elsass, Prag. Aus Rom brachte er meiner Oma ein Armband mit. In mehreren Reihen schmiegen sich silberne Tropfen um das Handgelenk. Oma sagte immer, das seien ihre Tränen. Von der Ostfront schrieb er kaum, erzählte nichts. Genauso wie von der Geschichte des Fallschirms. Nach dem Krieg verreiste er nie mehr.

Fallschirmseidenkleid und Blumenkranz: Die Großeltern der Autorin an ihrem Hochzeitstag im Jahr 1949.
Fallschirmseidenkleid und Blumenkranz: Die Großeltern der Autorin an ihrem Hochzeitstag im Jahr 1949.Anna Seifert

Als meine Großmutter in ihrem Seidenkleid 1949 in einer Pferdekutsche zur Kirche gefahren wurde, war ihr Bruder gefallen, ebenso viele ihrer Freunde. Ihr jüngerer Bruder war 1944 im Alter von 19 Jahren über eine Panzermine gefahren, sein Körper zerfetzt, auf dem Rückzug in Norditalien, als alles schon verloren war. Ein sinnloser Tod von vielen. Wir besuchten einmal sein Grab auf einem Soldatenfriedhof am Gardasee, da liegt er nun mit Tausenden anderen. Sein Foto stand immer auf dem Klavier, neben dem Kamin. Auch über ihn wurde nicht gesprochen.

Mein Großvater hatte Krieg und Gefangenschaft überlebt, traumatisiert. Für den Rest seines Lebens kämpfte er mit einer Alkoholsucht, er weinte viel.

Meinem Opa fehlten die Worte

Er war so alt wie ich heute, Mitte 20, als er mit seinem Leben abschloss. Das, so hat er es erzählt, war vor der zweiten Abwehrschlacht um das Kloster Montecassino in Mittelitalien im Frühjahr 1944. Er ließ sich damals von einem Kameraden vor der beeindruckenden Kulisse fotografieren. Mein Großvater wollte diesen Moment festhalten, falls er von dort nicht nach Hause zurückkehren würde. „Vati“, schrieb meine Mutter als Mädchen später auf das Bild.

Als er nach Kriegsende zu seinen Eltern zurückkam, begrüßte ihn seine Mutter mit den Worten, es wäre ihr lieber, er wäre im Feld geblieben, gefallen also. Er war ihr nicht Held genug.

Ich frage mich: Welche Schuld hat er auf sich geladen?

Welche Schuld hat er auf sich geladen? Was wusste er von den entsetzlichen Verbrechen der Nazis, war er vielleicht an welchen beteiligt? Von welchen Geschehnissen konnte und wollte er nicht sprechen?

Mein Opa hatte nur spärliche Augenbrauenhaare. Im Krieg sei er über eine brennende Brücke gerannt, hieß es, die Augenbrauen wurden versengt. Als meine Mutter ihn einmal fragte, ob er jemanden getötet hatte, starrte er mit leerem Blick an ihr vorbei. Es fehlten ihm die Worte. Und vielleicht sagt dieses Schweigen ohnehin mehr.

Mein Großvater war ein sensibler Mann, er las gern. Seine Bücher hütete er wie einen Schatz, versteckte sie vor den einmarschierenden Amerikanern. Camus, Shakespeare, sogar Lenin.

Meine Oma war beim BDM

Und meine Oma? 1920 geboren, trat sie dem Bund Deutscher Mädel (BDM) bei. Es gibt Fotos von ihr im Sportanzug mit Hakenkreuz und langen, dunkelbraunen Flechtzöpfen. Sie mochte die Ausflüge und Wanderungen. Dornröschen wollten sie mal als Theaterstück aufführen, sie spielte eine Hofdame. Am Tag der geplanten Aufführung dann die Absage von offizieller Seite: Aufgrund der „Nacht der langen Messer“ 1934 wurden Trauer und Gedenken verordnet. Sie hat das ihr ganzes Leben lang bedauert. In ihren Schulheften schrieb sie vom angeblichen französischen Erbfeind und verzierte ihre Schönschriftübungen mit Hakenkreuzgirlanden.

Dann irgendwann wurden ihre Freunde aus dem Tanzkurs eingezogen. Die ersten fielen an fernen Orten, wurden nie geborgen.

Während im Radio von den versenkten Registertonnen der Alliierten im Atlantik schwadroniert wurde, also von durch die Nazis versenkten Schiffen, saß meine Oma im Wohnzimmer und stickte. Für jede Tonne einen Kreuzstich, sagte sie.

Es gab auch eine positive Geschichte in der Familie

Es wurde ein französischer Kriegsgefangener in dem alten Haus untergebracht. Mein Urgroßvater sollte die Fenster von dessen Zimmer vergittern, er weigerte sich, der Franzose aß mit meiner Familie am Tisch. Die einzige positive Geschichte aus meiner Familie, die ich über diese Jahre finden kann.

Hochzeitskleider aus Fallschirmseide waren in den Kriegs- und Nachkriegsjahren keine Seltenheit: Hier ein 1946 getragenes Kleid, das in einem Museum in Coburg gezeigt wird.
Hochzeitskleider aus Fallschirmseide waren in den Kriegs- und Nachkriegsjahren keine Seltenheit: Hier ein 1946 getragenes Kleid, das in einem Museum in Coburg gezeigt wird.Picture Alliance

Irgendwann gingen meine Oma und ihre Eltern bei Luftalarm nicht mehr in den Keller. Sie wollten lieber in ihrem Wohnzimmer sterben, als unter der Erde zu ersticken.

1945 marschierten die Amerikaner in der kleinen Stadt ein. Der Vater meines Großvaters stellte sich auf den Marktplatz, zeigte den Hitlergruß. Er wollte „als Held“ erschossen werden. Die GIs ignorierten den alten Mann.

Ein Teil meiner Familie versteckte sich aus Angst vor der anrückenden US-Army in den alten Felsenkellern. Oben hätten die örtlichen NSDAP-Größen mit den Amerikanern auf die „Befreiung“ angestoßen; ihre Parteibücher und -abzeichen hätten sie kurz vorher entsorgt, erzählte mein Urgroßvater. Die Soldaten verteilten Bananen und Süßigkeiten.

Jahrzehnte später wurde ich geboren, in Nürnberg

Meine Oma schlief auch lange nach dem Krieg im sogenannten „Fliegerbett“. Es wurde ihrer Familie von der lokalen NSDAP-Behörde zugeteilt, nachdem ihres bei einem Fliegerangriff von einer Luftmine zerstört wurde. Ob sie sich Gedanken machte, wer vor ihr in diesem Bett Ruhe fand? Was ist mit dieser Person passiert?

Jahrzehnte später wurde ich geboren, in Nürnberg, einer Stadt, in der durch die Nürnberger Rassengesetze die ideologischen Grundlagen des Holocaust geschaffen wurden. Und doch ist sie auch die Stadt der Nürnberger Prozesse, in denen die Hauptkriegsverbrecher der NS-Elite angehört und verurteilt wurden. Ein Meilenstein der Rechtsgeschichte. Ob es für die begangenen Gräueltaten jemals so etwas wie Gerechtigkeit geben kann?

Und ob meine Großeltern und viele Millionen andere je ihre individuelle Schuld erkannt haben?

Ich werde nicht auf alle meine Fragen eine Antwort finden, meine Großeltern leben schon lange nicht mehr. Das Kleid aber werde ich aufheben.

Eingenäht in dieses Brautkleid sind Bahnen von Stoff, die für einen jungen britischen Soldaten den Tod bedeuteten. Während ich das Hochzeitsfoto meiner Großeltern ansehe, blickt vielleicht eine andere Familie in Großbritannien auf ein Foto eines jungen Soldaten, der nicht nach Hause zurückkehrte. Liebe und Leben; Schuld und Tod.

Back to top button