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Rafael Gaida baut Möbel mit Schaffell | ABC-Z

Eine Portion Seelenheil steckt in jedem Schaf, das die Herde von Rafael Gaida verlässt. Vielen hat er einen Namen gegeben. Da ist Stracciatella, das schwarz-weiße, oder Patchwork, das kunterbunte. Außerdem gibt es noch Alfred, die Heidschnucke mit dem Zottelfell. Mit jedem einzelnen Schaf verbindet der Neunundvierzigjährige eine Geschichte. Die Tiere sind nicht echt. Natürlich nicht. Es sind Möbelstücke.

Dick gepolsterte Sitzhocker, um genauer zu sein. Und immer, wenn sich Gaida in seine Werkstatt zurückzieht, um die Herde weiter zu vergrößern, ist gerade besonders viel oder – wie während der Corona-Pandemie – besonders wenig los in seinem Leben. Schafe bauen als Therapie – gegen Stress, gegen die Sorgen. Denn eines hat er in den vergangenen Jahren gelernt: Egal, was im Leben passiert, die Herde gibt Sicherheit. Finanzielle und manchmal auch emotionale.

Die Mainschafe werden mit echtem Fell bezogen.Frank Röth

Und passiert ist im Leben von Rafael Gaida wahrlich einiges. Seit 23 Jahren hat er mitten im Frankfurter Osthafen, auf dem alten Gelände der Bundesdruckerei, dort, wo es tagsüber laut, staubig und dreckig ist, eine Halle, sein Loft, gemietet. Anfangs hat er hier mit seiner damaligen Partnerin, einer Künstlerin, eine Schweißerei betrieben. Sie habe Theken für Clubs gebaut, er einen Online-Möbelhandel aufgezogen, erinnert er sich. Laufkundschaft gab es keine – zumindest nicht solche, die sich für das Tun und Schaffen von Gaida und seiner Freundin interessierte. Laufkundschaft im damals noch benachbarten FKK-Club gab es hingegen ausreichend. Die Gegend war ein bisschen verrucht, ein bisschen wild, perfekt für Freigeister, wie Gaida und seine Partnerin es waren.

Fell wird in 36 Gerbschritten aufgearbeitet

„Aber mit Kunst verdient man am Anfang kein Geld“, sagt er – und so musste ein neues Standbein her. Gaida, handwerklich durchschnittlich begabt und immer schon überdurchschnittlich unerschrocken, erinnerte sich an einen Hocker, den er bei einem Nachbarn gesehen hatte. Ein Holzgestell mit Fell. Mit etwas Fantasie – ein Schaf. „Aber der war sehr eckig, sehr verkantet und hart. Das hat einem weh getan, wenn man den nur angeschaut hat“, sagt der Unternehmer. Aber die Grundidee überzeugte Gaida, der fortan in der Werkstatt zu tüfteln begann.

Er entwarf einen Unterbau. Robust sollte das Holz sein – und einfach zusammenzubauen. In der einstigen Stahlwerkstatt wurde nun gesägt, gehämmert und geschliffen. „Nach den ersten tausend Hockern haben unsere Lungen nicht mehr mitgemacht“, sagt Gaida. Mittlerweile, viele Jahre später, übernimmt die Vorarbeiten eine Schreinerei aus Baden-Württemberg.

Außerdem nahm der ehemalige Industriekaufmann Kontakt zu einer Gerberei in Nordhessen auf, die seither die Schaffelle für ihn aufarbeitet. Das ist bitter nötig, denn die Felle haben meist eine lange Reise hinter sich. Gaida bezieht sie aus Neuseeland und Australien. In ihnen hängen meist noch die Spuren eines ganzen Schaflebens. Stroh und Dreck sind da noch das kleinste Übel. In 36 Einzelschritten wird das Fell gereinigt, gebürstet, getrocknet und wohnzimmertauglich gemacht.

Denn der Hocker soll zwar aussehen wie ein Schaf, nicht mehr aber so riechen. Ein Aufwand, der sich auch im Preis niederschlägt. Für einen Standard-Hocker, kaum größer als eine Bierkiste, benötigt er ein ganzes Schafsfell. „Die Temu-Gesellschaft wird ihn nicht kaufen“, weiß Gaida. Wohl aber Menschen, die sich ein bisschen verrückten Luxus leisten wollen. Ein solcher Hocker, der bis zu 100 Kilo trägt, kostet immerhin 229 Euro.

Vom Möbelhandel zum Gastronomen

Erhält der Schafsbauer die zuvor passgenau auf die gewünschte Größe zurechtgeschnittenen Felle zurück, geht es ans Bespannen. Über die Jahre hinweg hat Gaida sein eigenes System entwickelt. Und doch gleicht kein Schaf dem anderen – weil auch die Felle in ihrer Struktur und Farbgebung immer einzigartig sind. Mittlerweile lässt Gaida auch einen Teil der Wolle einfärben. Ein bisschen gegen seine Überzeugung, wie er bekennt. Denn er mag das Naturprodukt – die Kunden aber mögen pinke Schafe.

Ausgefallene Frisuren: Die Vielfalt der Natur spiegelt sich auch in den Sitzhockern wider,
Ausgefallene Frisuren: Die Vielfalt der Natur spiegelt sich auch in den Sitzhockern wider,Frank Röth

Bis zu 90 Prozent seiner Einnahmen habe er irgendwann über die Schafe erzielt, erinnert Gaida sich. Es waren anstrengende Jahre. Nachts baute er Hocker, an den Wochenenden verkaufte er sie auf Weihnachtsmärkten und Landschauen. Zeit, durchzuatmen, blieb keine. Die Beziehung zwischen Schäfer und Stahlkünstlerin – sie ist in die Brüche gegangen. Geblieben ist eine tiefe Freundschaft. Bis heute. Sie zog mit ihrer Werkstatt aus, Gaida blieb mit seiner im Osthafen. Die Besitzer der Immobilie wechselten, neue Nachbarn kamen und gingen. Gaida erfand sich neu. Mal wieder. Diesmal als Gastronom.

Immer häufiger vermietete er die Halle, die sich durch den rauen Industriestil auszeichnet, als Eventlocation für Privatfeiern, stellte sogar Personal ein, um die anfallende Arbeit stemmen zu können. Bei einer dieser Feiern half auch seine heutige Ehefrau Loredana aus. Gemeinsam haben sie einen acht Jahre alten Sohn. Mit der heute Neununddreißigjährigen, die sich selbst als „waschechtes Kind der Gastronomie“ bezeichnet, zog auch die Vision ein, sich wirtschaftlich mehr auf die Eventbranche zu konzentrieren.

„Ich bin ein strukturierter Mensch“, sagt Loredana Gaida – und als solcher bestand sie auf einem klaren Fokus. Wenn etwas gemacht wird, dann richtig. Mit diesem Gedankenmotor hat sie ihren Mann angetrieben – und ihn an anderer Stelle ausgebremst. Den Online-Möbelhandel gibt es nicht mehr. Dafür hat das Paar viel Zeit, Energie und Geld investiert, um in der Eventbranche Fuß zu fassen.

Die Schafe helfen ihrem Erbauer durch die Pandemie

Die Schafe, das war Loredana Gaida schnell klar, würde ihr Mann niemals komplett aufgeben. Ihr bleibt nur radikale Akzeptanz, wenn er sich spätabends in die Werkstatt verabschiedet und bei lauter Musik Schafe baut. Und so hat sie das Projekt angenommen, hat mit ihrer strukturierten Art den Internetauftritt der Herde überarbeitet, sich für einen neuen Markennamen eingesetzt – Mainschaf. Um sich vor Nachahmern zu schützen, hat das Paar ein Geschmacksmuster angemeldet. Sie halten die Rechte auf das Design.

Die neue, klare Linie, sie schien den Kunden zu gefallen. Das Loft wurde gebucht, abseits der Stadt, da wo es niemanden interessiert, ob nachts die Musik aufdreht, wurde gefeiert. Bis Corona die Welt zum Stillstand zwang. Partys waren verboten, die Geschäftsgrundlage fiel weg.

Was blieb, waren Überbrückungshilfen und die Schafe. Rafael Gaida hat viele in dieser Zeit gebaut. Manche aus purer Langeweile, andere aus Verzweiflung. „Ohne sie wäre ich nicht mehr als Selbständiger hier. Es gab Phasen, da habe ich nur mit ihnen Geld verdient“, sagt er.

Rau und herzlich

Inzwischen laufen die Veranstaltungen wieder regulär, das Loft ist nach wie vor Schauplatz für private Feierlichkeiten und – in einem abgetrennten Bereich – Werkstatt für die Schafe. Ergänzt wird das Mietangebot durch einen Außenbereich sowie Tagungsräume. Alles ein wenig unkonventionell. Rau und herzlich zugleich – ein bisschen so wie die Gastgeber selbst. Und die übernehmen auf Anfrage inzwischen auch die komplette Organisation rund um die Buchungen, auf Wunsch auch mit einer Führung durch den Schafstall.

Den Mut, auch in wirtschaftlich herausfordernden Zeiten neue Projekte zu wagen, sammelt Rafael Gaida, indem er an seinem Liebsten festhält. Denn immer dann, wenn er dem vierbeinigen Holz-Gestell ein besonders ausgefallenes Fell überzieht, hüpft seine Schäferherz. Er weiß: Jeder Hocker findet irgendwann genau den Besitzer, der zu ihm passt – nicht umgekehrt.

Die ehrliche, mitunter anstrengende handwerkliche Arbeit hat ihm, dem Tausendsassa, ein bisschen innere Ruhe geschenkt. Längst habe sich die Rechnung umgekehrt, sagt er. Die Schafe machten mittlerweile nur noch rund zehn Prozent des jährlichen Umsatzes aus. Und trotzdem investiert er jede freie Minute in ihren Bau: „Wenn alles zusammenbricht, könnte ich die notfalls nachts in einer Abstellkammer bauen.“

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