Merz kann Taurus-Ansage nicht einlösen und stiftet Verwirrung – Politik | ABC-Z

Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) hat seine Aussage relativiert, dass es einen Richtungswechsel bei der militärischen Unterstützung der Ukraine gibt. Er räumte bei einem Besuch in Finnland ein, die Erlaubnis, dass die Ukraine mit westlichen Waffen auch Stellungen in Russland angreifen darf, sei kein neuer Stand. Er habe mit seinen Aussagen nur beschrieben, was schon seit Längerem der Fall sei: dass die Länder, die der Ukraine Reichweiten-Begrenzungen auferlegt hatten, diese aufgegeben hätten, sagte Merz bei einem Treffen mit Finnlands Ministerpräsident Petteri Orpo.
Die Ukraine habe das Recht, die gelieferten Waffen „auch jenseits der eigenen Landesgrenze einzusetzen, gegen militärische Ziele auf russischem Staatsgebiet“, sagte Merz in der finnischen Stadt Turku. In Bundeswehrkreisen wurde dazu betont, von Deutschland gelieferte Waffen hätten ohnehin keine größeren Reichweiten – und eine Lieferung des Marschflugkörpers Taurus zeichnet sich nach SZ-Informationen bisher nicht ab, das Thema sei erst mal vom Tisch.
An diesem Mittwoch wird der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij in Berlin erwartet, Merz und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier werden ihn empfangen. Merz wollte mit seinen Aussagen offenkundig noch einmal öffentlich betonen, dass er den Kurs unterstützt, der Ukraine Angriffe auf russisches Territorium mit westlichen Waffen zu ermöglichen. Bei dem Besuch von Selenskij soll nach SZ-Informationen zudem ein neues Unterstützungspaket verkündet werden. Allerdings kann Merz bislang weder bei neuen, weitreichenderen Waffensystemen noch bei mehr Druck auf Russland durch Sanktionen seinen früheren Ankündigungen Taten folgen lassen. Bei neuen Sanktionen bremsen die USA, deren Mitwirkung aber entscheidend wäre. US-Präsident Donald Trump fürchtet wirtschaftliche Nachteile für sein Land und würde gerne wieder stärker mit Russland ins Geschäft kommen.
Nach Informationen der Süddeutschen Zeitung, des NDR und des WDR sind die Gespräche der EU mit den USA über den gemeinsamen Kampf gegen Moskaus Sanktionsumgehungen gescheitert, das geht aus einem internen Bericht des Auswärtigen Amts über eine Sitzung des EU-Rates für Auswärtige Angelegenheiten hervor, der am 20. Mai tagte. Noch immer spülen die Öl- und Gaseinnahmen Milliarden in Putins Kassen. Laut dem vertraulichen Papier beklagt der EU-Sanktionsbeauftragte David O’Sullivan den vollständigen Abbruch der transatlantischen Abstimmung zu Sanktionsumgehungen.
Merz sieht daher keine baldige Deeskalation, zumal Putin immer deutlicher erkennen lässt, kein Interesse an Verhandlungen zu haben. Der Kreml reagierte mit neuen Drohungen auf die Aussagen von Merz. Letztlich hat Merz aus Sicht seines Koalitionspartners SPD aber eher Verwirrung gestiftet, als etwas Neues zu verkünden. „Was die Reichweite angeht, will ich sagen, da gibt es keine neue Verabredung, die über das hinausgeht, was die bisherige Regierung gemacht hat“, so SPD-Chef und Vizekanzler Lars Klingbeil. Merz hatte zuvor betont: „Es gibt keinerlei Reichweitenbeschränkungen mehr für Waffen, die an die Ukraine geliefert worden sind.“
In der SPD heißt es, Merz habe vor allem rhetorisch einen Pflock eingerammt, faktisch habe sich nichts verändert. Das Verteidigungsministerium von Minister Boris Pistorius betonte auf SZ-Anfrage: „Diese Linie ist nicht neu, es gibt keine Lageänderung.“ Die abgestimmte Linie bestehe seit vergangenem Jahr, sie sei von Pistorius im Mai 2024 verkündet worden. Damals ging es zunächst darum, dass die Ukraine sich im Grenzgebiet mit westlichen Waffen gegen russische Stellungen wehren durfte und sie auch auf russischem Gebiet angreifen durfte. Russland hatte damals eine Offensive gegen die ukrainische Millionenstadt Charkiw nahe der russischen Grenze gestartet.
Im vergangenen Herbst hatte der damalige US-Präsident Joe Biden nach langem Zögern generell eine Freigabe für Atacms-Marschflugkörper für Angriffe auf russisches Gebiet erteilt. Sie haben eine Reichweite von etwa 300 Kilometern, zuvor hatte auch Großbritanniens Premier Keir Starmer auf eine Freigabe für die britischen Systeme vom Typ Scalp gedrängt. Allerdings wurden beide Waffen in überschaubarer Zahl geliefert. Deutschland hat mit der größten Reichweite den Raketenwerfer Mars II (85 Kilometer) geliefert, allerdings hat die Ukraine nur fünf Stück bekommen.
Merz will nun nicht mehr öffentlich über Waffenlieferungen sprechen
Viel wichtiger sind für die Ukraine inzwischen die selbstproduzierten Waffen; vor allem mit Drohnen griff sie immer wieder Stellungen und Munitionsdepots in Russland an. Während Wladimir Putin auf Zeit zu spielen scheint, hat Trump zuletzt damit gedroht, sich mangels Fortschritten von den Bemühungen um Waffenstillstandsverhandlungen zurückziehen. Damit wächst auch der Druck auf die europäischen Unterstützer, Wege hin zu einem Ende des Krieges zu finden. Zwar will Merz im Zuge einer „strategischen Ambiguität“ nicht mehr öffentlich über Waffenlieferungen sprechen, aber auf den Marschflugkörper Taurus mit einer Reichweite von 500 Kilometern und einer größeren Durchschlagskraft als die von den USA und Großbritannien gelieferten Systeme darf Selenskij trotz des Regierungswechsels in Berlin kurzfristig weiterhin nicht hoffen.
Wegen der Komplexität und weil für eine mögliche Zielkontrolle Bundeswehrsoldaten eingebunden werden müssten, gibt es Sorgen, dass Deutschland Kriegspartei werden könnte – so die Lesart auch der SPD, die eine Lieferung zudem im Bundestagswahlprogramm ausgeschlossen hatte. Noch im vergangenen Jahr hatte Merz im Bundestag und an anderer Stelle immer wieder energisch die Taurus-Lieferung eingefordert. So schrieb Merz am 19. Oktober in einer E-Mail an seine Anhänger, dass es eine klare Ansage an Putin brauche: „Wenn der Kriegsterror gegen die Zivilbevölkerung nicht binnen 24 Stunden aufhört, werden die Reichweitenbegrenzungen der gelieferten Waffen aufgehoben. Wenn das nicht reicht, liefert Deutschland Taurus Marschflugkörper, um die Nachschubwege der russischen Armee zu zerstören.“