Kultur

Neuer Roman von Patrick Modiano: Ein Leichtgewicht | ABC-Z

Erinnern bereitet Arbeit. Dass zurückliegende Ergebnisse nicht einfach eine Spur im Gedächtnis hinterlassen, zu der man auf kurzem Weg zurückfinden kann, hat der Philosoph Paul Ricœur mehrfach beschrieben: Erinnern ist keine passive Angelegenheit. Am Anfang steht der Reiz, ein Geruch etwa, am Ende das nebelverhangene Bild aus der Vergangenheit. Patrick Modiano genügte auch schon mal das Klicken eines Feuerzeugs, um seine Figuren im Geiste Jahrzehnte überbrücken zu lassen.

Modiano sucht diese Reize gezielt. In seinem neuen Roman „Die Tänzerin“ streift der Erzähler durch die vom Massentourismus gebeutelte französische Hauptstadt; nur allzu bereit, sich in das von Akkordeonklängen untermalte, stets nah am Kitsch gezeichnete Paris zurückspülen zu lassen, das Modiano in all seinen Romanen heraufbeschwört.

Das Buch

Patrick Modiano: „Die Tänzerin“. Hanser Verlag, München 2025. 96 Seiten, 20 Euro

Es ist die Begegnung mit einem alten Bekannten, der freilich nicht zugibt, ebenjener Bekannte zu sein, die ihn an die 1960er Jahre zurückdenken lässt. Damals liebt der Erzähler eine Tänzerin und passt regelmäßig auf deren Sohn auf. Die Tänzerin bewältigt ihr Leben mit strenger Disziplin. Wie sie wirklich zu dem Erzähler steht, weiß auch der nicht. Ab und an verbringen beide die Nacht im Bett mit der Mäzenin Pola Hubersen.

Pola? Paula? Der Erzähler zögert, denn geschrieben hat er ihren Namen wohl nie gesehen. Wer sich so exzessiv mit dem Erinnern beschäftigt wie Modiano, macht seine Sache gut: Derart genaue Einblicke in die Feinmechanik der Erinnerungsmaschine bekommt man selten.

Nach bewährtem Muster

In der „Tänzerin“ spielt sich alles nach bewährtem Modiano-Muster ab: Es gibt Berührungspunkte mit dem kriminellen Milieu, mysteriöse Frauen, selbst die Vororte kennt man bereits. Modianos neuester Roman ist jedoch besonders skizzenhaft, was die wohlgesinnte Leserin ihm als Methode auslegen kann, jagt die Tänzerin doch dem Moment der Schwerelosigkeit nach.

Kurz kommt einem sogar Paul Valéry in den Sinn, der in „Tanz, Zeichnung und Degas“ über jenen berühmten Maler nachdenkt, der versessen darauf war, Bewegung auf Leinwand zu bannen. Aber doch eben nur kurz. Denn eigentlich ist Modianos Roman eher inhaltsleer denn schwerelos. Zu einer Geschichte fügt sich das Ganze nicht zusammen.

Man fragt sich schließlich, warum dieses mit 96 Seiten äußerst schmale Buch als eigenständiger Roman erscheint, der sich recht fugenlos auch aus einem seiner früheren Romane herausgelöst haben könnte. In „Unterwegs nach Chevreuse“ etwa erinnert sich der Erzähler an das gleiche Paris, an eine Frau mit unbekannter Vergangenheit, Rätsel, Straßenzüge.

Womöglich gerät das Erinnern auch mehr und mehr zum Nationalsport, immerhin erscheinen von Annie Er­naux – wie Modiano fran­zö­si­sche:r Li­te­ra­tur­no­bel­preis­trä­ge­r:in – jährlich neue Übersetzungen ihrer Erinnerungen an Kindheit und Jugend, an Partner und Verwandte.

Verzicht auf Konstruktion

Ob es das tatsächliche, das eigene oder ein ausgedachtes Leben ist, an das sich Ernaux wie Modiano erinnern, ist irgendwann auch nicht mehr wichtig, wenn es zwischen zwei Buchdeckel gepresst wurde. Was autofiktionales von nichtautofiktionalem Schreiben unterscheidet, ist ja weniger das Zurückgreifen aufs biografische Material, auf den eigenen Erfahrungsschatz als der weitgehende Verzicht auf Verfremdung und Konstruktion.

Modiano scheint einer Wahrheit verpflichtet, die die Gattung Roman nicht einfordert. Er selbst hat in einem früheren Roman einmal von „Geheimprovinzen“ geschrieben, die sich als Netz persönlicher Referenzpunkte über Straßen und Plätze legen. Wem die Karte für diese Provinzen fehlt, dem bleibt das Schichtwerk darunter verborgen. Sichtbar ist nur das Gestein; und das ist ziemlich grau.

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