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Remco Evenepoel vor der Tour de France – der dritte Mann | ABC-Z

Stand: 26.06.2025 10:21 Uhr

Remco Evenepoel schultert mit Außenseiterchancen die Hoffnungen der Radsportnation Belgien bei der Tour de France. Von Stephan Klemm.

Remco Evenepoel schultert die Hoffnungen der Radsportnation Belgien. Der beste Zeitfahrer der Welt besitzt hinter Tadej Pogacar und Jonas Vingegaard Außenseiterchancen auf den Gesamterfolg. Es wäre die Krönung einer sehr speziellen Karriere und die Rückkehr nach dramatischen Rückschlägen.

Nach seinem Zeitfahr-Erfolg in dem Dorf Saint-Péray im Département Ardèche trug Remco Evenepoel ein T-Shirt und eine Kappe, auf denen jeweils die Zahl 1000 zu sehen war. So viele Siege hatte seine Mannschaft Soudal-Quick Step seit ihrer Gründung unter anderem Namen im Jahr 2003 an jenem 12. Juni nun erreicht. Dass es Evenepoel vorbehalten war, diesen besonderen Triumph einzufahren, ist ein Zufall, den ihm der Radsportkalender beim Critérium du Dauphiné ermöglichte. Doch dass Evenepoel, der Kapitän der Auswahl, der große Star des Teams und der Radsportnation Belgien, besondere Siege einfährt, ist alles andere als Glückssache.

Denn dieser kleine Mann, er misst 1,71 Meter, vereint Talent mit Klasse, Mut mit Kraft und verwandelt Gelegenheiten nicht selten in Siege. Bei der Dauphiné durfte er nach seinem Triumph im Kampf gegen die Uhr auch das Gelbe Trikot überstreifen, was in Belgien mit Euphorie vernommen wurde. Evenepoel, 25 Jahre jung, führte nicht nur die Gesamtwertung an, er hatte auf einem 17,2 Kilometer kurzen Parcours auch seine Referenzgrößen Jonas Vingegaard und Tadej Pogacar distanziert, und zwar deutlich um 20 beziehungsweise 48 Sekunden.

Die Hoffnung einer Radsportnation

Evenepoel ist die Hoffnung einer wilden Radsportnation. Seit dem Tour-Erfolg des Bergkönigs Lucien van Impe im Juli 1976 stellte Belgien keinen Sieger mehr bei der Frankreich-Rundfahrt. Evenepoel soll diese Sehnsucht stillen, möglichst bald, was ganz plastisch den Druck beschreibt, dem dieser Fahrer ausgesetzt ist. Er gilt als dritter Mann, als drittgrößter Anwärter auf den Gesamterfolg beim größten Radrennen in diesem Sommer hinter Pogacar und Vingegaard.

Vor allem deshalb war bei Evenepoel nach Saint-Péray große Erleichterung zu spüren, denn er war sich gar nicht sicher, ob er noch einmal in der Lage sein würde, in die Weltklasse vorzustoßen. Seine Krankenakte machte ihm zu schaffen. 62 Siege hat Evenepoel bereits in seiner Karriere eingefahren, doch sie war bisher bereits dreimal sehr lange wegen schwerwiegender Verletzungen unterbrochen.

Lange Ausfallzeiten nach schweren Stürzen

Bei der Lombardei-Rundfahrt stürzte Evenepoel im Herbst 2020 vor einer Brücke einen Abhang hinunter – Beckenbruch, neun Monate Ausfallzeit. Im Frühjahr 2024 brach er sich nach einem Unfall bei der Baskenland-Rundfahrt ein Schulterblatt. Erneut fiel er lange aus, doch bis zur Tour de France hatte er seine Topform wieder erreicht. Dort belegte er bei seinem Debüt hinter Pogacar und Vingegaard Rang drei.

Kurz darauf stieg Evenepoel auf zu einem Sporthelden der Belgier. Bei den Olympischen Spielen von Paris gewann er im August 2024 Gold im Einzelzeitfahren und im Straßenrennen. Das Finale seines Solos nutzte Evenepoel zu einer spektakulären Inszenierung. 

Ikonisches Foto bei Olympia

Ein paar Zentimeter hinter der Ziellinie am Trocadéro zog er an den Bremshebeln, blieb ruckartig stehen, stieg ab, stellte sich vor sein Rad und breitete die Arme aus, während im Hintergrund das bekannteste Wahrzeichen von Paris stoisch grüßte. “Ich wollte einfach ein besonderes Foto mit dem Eiffelturm haben”, sagte Evenepoel damals.

Remco Evenepoel feiert seinen Sieg im Straßenrennen bei den Olympischen Spielen 2024 in Paris

Das hatte er geschafft. Das Bild ging um die Welt, es wurde eines der ikonischsten der Spiele, allein auf Evenepoels Instagram-Account wurde es fast 700.000-mal gelikt.

Kollision mit einem Postauto

Nur ein paar Monate später, Anfang Dezember 2024, schien es ungewiss, ob sich die Triumphfahrt des Olympiasiegers würde fortsetzen lassen. Er war im Training mit der plötzlich geöffneten Tür eines Postautos kollidiert, stürzte schwer, brach sich mehrere Rippen, die rechte Hand und das rechte Schulterblatt. Hinzu kamen Quetschungen der Lunge und eine Verrenkung des rechten Schlüsselbeins. “Im Winter gab es Momente, an denen ich daran gezweifelt habe, ob ich jemals wieder mein bestes Niveau erreichen könnte”, sagte Evenepoel mit nachdenklicher Mine nach seinem Zeitfahr-Erfolg von Saint-Péray.

Doch ihm wohnt eine Beharrlichkeit inne, ein kämpferisches Vermögen, das ihn schon in seiner ersten Karriere ausgezeichnet hat. Da war er Fußballer, ein sehr guter zudem, defensiver Mittelfeldspieler und linker Verteidiger beim RSC Anderlecht, der PSV Eindhoven und dem KV Mechelen. Er war Kapitän der belgischen U16-Auswahl, technisch versiert, kämpferisch und läuferisch sogar herausragend. Doch in Mechelens U19 stagnierte die Laufbahn. Was nun?

Erst Fußballer, dann Radsportler

Evenepoel wusste, dass er glänzende Ausdauerwerte besaß. Denn mit 16 hatte er den Halbmarathon von Brüssel im Feld der Topstarter mit einer Zeit von 1:16:15 Stunden absolviert und dabei Rang 13 belegt. Und auf dem Rad seines Vaters Patrick, eines ehemaligen, wenig erfolgreichen Radprofis, vollbrachte er eine weitere bemerkenswerte Leistung.

An einem Tag im Frühling 2017 fuhr Remco Evenepoel ohne Vorbereitung 120 Kilometer über welliges Terrain, die Tachodaten wiesen einen Schnitt von 34 Stundenkilometern aus. Der Vater staunte, und der Sohn hatte eine neue Leidenschaft entdeckt. Der ausgebootete Fußballer entschied sich recht bald danach dazu, es nun als Radfahrer versuchen zu wollen. Es gelang auf Anhieb, und zwar außergewöhnlich.

Remco Evenepoel für die belgische U15-Nationalmannschaft im Jahr 2014

2017 gewann Evenepoel schon erste Rennen, 2018 war er bereits 27-mal in seiner Altersklasse erfolgreich, unter anderem beim WM-Zeitfahren und -Straßenrennen der Junioren. 2019, mit 19, nach erst zwei Jahren im Sattel, gewann Evenepoel schon die schwere Clásica San Sebastián als Solist bei den Profis. Danach gab es eine Zeit, in der er alle kleineren Rundfahrten, bei denen er am Start stand, auch gewann.

Er fürchtete, alles sei vorbei

Doch es folgten immer wieder Rückschläge. Die multiplen Frakturen des Dezember-Sturzes jedoch hatten eine für ihn eine besonders dramatische Qualität: “Ich hatte heftige Probleme mit meiner rechten Schulter”, sagt er. Dieses Körperteil ist für einen Radfahrer so wichtig wie ein Bein für einen Fußballer. Er sei jedoch ruhig geblieben, wie es seinem Naturell entspreche, sagt Evenepoel, “Tag für Tag, Woche für Woche habe ich wieder Vertrauen auf dem Sattel zurückgewonnen”. In Zeiten, in denen die Probleme unüberwindbar schienen, “habe ich alles beiseitegestellt, meine Leistungsdaten, den Druck. Ich lebte wie ein normaler Mensch und habe Dinge gemacht, zu denen ich sonst in der Saison nicht komme.”

Evenepoel kam tatsächlich zurück, und wie. Sein erstes Rennen nach seiner Verletzung, den Pfeil von Brabant, gewann er am 18. April sogar. Kurz darauf belegte er Rang drei beim Amstel-Gold-Race und Platz neun beim Flèche Wallonne, ehe es bei Lüttich-Bastogne-Lüttich einen Rückschlag gab. Evenepoel, der Weltmeister von 2022, der Vuelta-Gewinner von 2023 und der zweimalige Gewinner des Monuments von Lüttich, wurde abgeschlagen und abgehängt, Platz 59.

Lipowitz als Gefahr

Nach einer Trainingsphase kam Saint-Péray und mit dem Sieg im Kampf gegen die Uhr die Zuversicht. Das Gelbe Trikot jedoch musste Evenepoel später an Pogacar weitergeben, in der Gesamtwertung wurde er auch noch von Vingegaard und dem jungen Deutschen Florian Lipowitz überholt. Doch Evenepoel bleibt auch nach dieser Erfahrung ruhig: “Ich weiß, was ich zu tun habe.” Die Dauphiné des Vorjahres beendete er gar auf Rang sieben und schaffte es doch noch aufs Podium der Tour. Das ist auch in diesem Jahr sein Ziel, wenngleich er weiß, dass mit Lipowitz unerwartet eine neue Bedrohung auf ihn zukommt: “Er ist ein außergewöhnlicher Fahrer, auf den ich aufpassen muss”, sagte Evenepoel der Sportschau während der Dauphiné.

Evenepoel versuchte es bis zur Dauphiné mit Gewichtsreduzierung, denn in den Bergen gilt: Leicht klettert gut. Doch dieses Unternehmen ist eine Gratwanderung, weil weniger Kilo meist mit dem Verlust von Kraft in den Zeitfahren einhergehen. “Dass es nicht so ist, macht mich zuversichtlich”, sagt Evenepoel.

General Evenepoel

Sein Team führt Evenepoel mit großer Aura und Führungsstärke. Klaas Lodewyck, sein sportlicher Leiter, sagte im vergangenen Juli: “Remco besitzt schon seit seiner Kindheit eine natürliche Autorität. So etwas kannst du niemandem beibringen. Alle Großen des Sports verfügen über diese Eigenschaft.” Die französische Sporttageszeitung L’Équipe bezeichnete den Belgier aufgrund dieser Qualitäten als “General Evenepoel”. Dieser General hat sich im Laufe der Zeit als besonders robust erwiesen, als selbstbewusst und mental stark. Es ist diese Mischung, mit der Evenepoel am 5. Juli in Lille als Geheimfavorit in die Tour startet.

Gewiss wird er dabei von Tausenden Landsleuten unterstützt. Lille liegt direkt an der belgischen Grenze und nur eine Autostunde von seinem Wohnort Schepdaal entfernt.

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