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Maybrit Illner in der TV-Kritik: „Die Dramatik der Lage wird unterschätzt“ | ABC-Z

Es gäbe viel zu diskutieren zu dem Thema, das sich Maybrit Illner am Donnerstagabend gesetzt hat: „Sozialstaat in Not“, so lautete der genretypische Sendungstitel, der aber diesmal auf einen ernsten Hintergrund verwies. Die Generation der Babyboomer geht in Rente, die Geburtenrate ist auf einem Tiefstand – beides übt Druck auf das Rentensystem aus. Und nicht nur das: Auch die Pflege- und Krankenversicherung wird mit wachsenden Ausgaben konfrontiert sein. Die Wirtschaft schwächelt seit ein paar Jahren schon, weswegen immer mehr Menschen um ihren Job bangen – wenn sie ihn nicht schon verloren haben.

Man könnte also meinen, es gäbe Stoff genug, um die Grundsätzlichkeiten des Sozialstaates zu diskutieren – jener Errungenschaft des vergangenen Jahrhunderts, die Lebenschancen und Ansprüche von Millionen von Bürgern absichert, ausgleicht und umverteilt. Doch Maybrit Illner und ihre Redaktion schafften es trotzdem nicht, sich aus den ehernen Zwängen des Talkshow-Genres zu befreien. Eine gute halbe Stunde lang ging es nicht um Rentenpunkte oder Steuersätze, nicht um Krankenhäuser, nicht um Pflegeheime, nein, sondern um: das Bürgergeld.

Altbekannte Positionen, altbekannte Gegensätze

Paul Ziemiak, Bundestagsabgeordneter und CDU-Generalsekretär in Nordrhein-Westfalen, bekundete in der Sendung, dass das Bürgergeld zu hoch sei und schuld am Aufstieg der AfD. Philipp Türmer, Bundesvorsitzender der Jusos, hielt dagegen, dass das Bürgergeld „die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer schützt“ und keinesfalls schuld am Aufstieg der AfD sein könne. So weit, so bekannt.

Kurioserweise war sich eine Mehrzahl am Tisch einig (die Moderatorin eingeschlossen), dass das Thema mindestens fiskalisch gesehen nicht der Rede wert ist. Das „Bürgergeld ist nicht der große Brocken“ im Haushalt, gab Illner in einem Nebensatz zu Protokoll. Die Leiterin des Redaktionsnetzwerks Deutschland und damit die zweite Journalistin am Tisch, Eva Quadbeck, sah das auf Nachfrage ganz genauso und ergänzte, dass das Thema nur deswegen bei den Parteien so beliebt sei, weil sie damit „Gefechte führen können, von denen sie meinen, dass sie bei ihrer Klientel gut ankommen“.

Und Verena Bentele, die zwölfmal die Paralympics gewann und seit sieben Jahren als Präsidentin den großen Sozialverband VdK leitet, verwies energisch darauf, dass der Sozialstaat viel mehr umfasse als nur das Bürgergeld, das Politiker nur ständig ansprächen, weil es „die Hallen zum Brodeln bringt“.

Wäre eine Reichensteuer die Lösung?

Aber Talkshow ist Talkshow. Also drehte sich die halbe Sendung um das Lohnabstandsgebot, die korrekte Zahl der Totalverweigerer, die Menge der (allerdings schrumpfenden) ausgeschriebenen Stellen, die ukrainischen Flüchtlinge, deren Bürgergeldbezug der zugeschaltete Tübinger Bürgermeister Boris Palmer für ihre vergleichsweise niedrige Erwerbsquote verantwortlich machte. Die Arbeitsanreize seien einfach zu gering. Selbst Palmer betonte jedoch, dass eine mögliche, von der Bundesregierung anvisierte Reform des Bürgergelds keinen spürbar größeren Finanzspielraum auf Bundesebene bringen würde.

Wohl um eine gewisse Ausgewogenheit der Themenwahl herzustellen, schwenkte Illner schließlich auf die Frage ein, ob nicht auch Milliardenerben ein „leistungsloses Einkommen“ bezögen und also zur Finanzierung des Sozialstaates stärker beisteuern könnten. Etwas holprig war der Themenschwenk schon deswegen, weil der deutsche Sozialstaat traditionellerweise als überwiegend leistungsbezogenes Solidarsystem der Arbeitnehmer organisiert ist.

Kapitaleinkommen zahlen etwa nicht in die Rentenkasse ein. Und selbst unter den Arbeitnehmern wird nur bei der Gesundheitsversicherung umverteilt; die Rentenpunkte dagegen richten sich grundsätzlich nach dem vorherigen Einkommen – ohne Umverteilung von oben nach unten.

Handwerker können nicht bis 70 arbeiten

Vielleicht ist die Zeit gekommen, über die hergebrachte Funktionsweise des Sozialstaates offen zu diskutieren? Man könnte umverteilende Elemente einführen, um etwa zwischen Akademikerrentnern ohne krummen Rücken und Handwerkern, die kaum bis 67, sicher nicht bis ins Alter von 70 Jahren arbeiten können, zu unterscheiden.

Das Einbeziehen der Kapitalseite ist selbst in der Union kein rotes Tuch mehr. Über eine Erbschaftssteuerreform wird man angesichts eines herannahenden Bundesverfassungsgerichtsurteils sowieso sprechen müssen.

Das Niveau, auf dem bei Maybrit Illner über diese Frage gestritten wurde, war allerdings ausgesprochen niedrig. Ziemiak wiederholte die alte CDU-Position, Häusle-Erben und Familienunternehmen dürften nicht zu stark belastet werden; Türmer bot eine erfrischend deutliche Rhetorik, inhaltlich aber nicht viel Substantielles. Boris Palmer erdete die Debatte, indem er auf die miserable Finanzlage der Kommunen verwies, die gar nichts anderes erlaube, als auch die Vermögenden stärker zu besteuern.

Die Sendung unterschätzte die Dramatik der Situation

Palmer war es auch, der schließlich den entscheidenden Satz der Sendung sagte: „Die Dramatik der Lage wird unterschätzt“. Um Tübingen herum komme es zu Insolvenzen und Stellenabbau, während die Sozialkosten aufgrund der höheren Arbeitslosigkeit immer weiter zunehmen würden.

Eva Quadbecks zustimmende Warnung vor „dem nächsten großen Thema, das auf uns zukommt, nämlich dass Kommunen Schwimmbäder zumachen, die Weihnachtsbeleuchtung nicht anstellen können und Bibliotheken schließen“, verdeutlichte den Ernst der Situation.

Will man eine solche düstere Zukunft verhindern, muss man über Wirtschaftspolitik reden, über Investitionsquoten, Binnenkonjunktur, Geschäftsmodelle, Industriepolitik. Nicht, wie Boris Palmer, über das Bürgergeld. Denn, wie Türmer treffend bemerkte, es sind ja „nicht die Arbeitslosen Schuld, dass es der Wirtschaft schlecht geht, sondern weil es der Wirtschaft schlecht geht, gibt es mehr Arbeitslose“.

Dass die Dramatik der Lage unterschätzt wird, kann man also genauso gut für diese Ausgabe von Illner geltend machen. Kaum streifte die Sendung grundsätzliche Fragen, die eine echte politische Debatte wert gewesen wären, schwenkte die Moderatorin zurück zum Thema Bürgergeldmissbrauch ein.

So zweckmäßig es ist, systematischen Sozialstaatsbetrug durch Banden aus dem europäischen Ausland zu stoppen: Dafür gibt es das scharfe Schwert des Strafrechts und eine hoffentlich anpassungsfähige staatliche Verwaltung. Mit der Frage nach der Zukunft des Sozialstaates hat dieses Problem nicht viel zu tun. Der Redaktion brannte es offenbar dennoch unter den Nägeln. Zuschauer mit anderen, ernsthafteren Interessen mussten diese Sendung mit Enttäuschung ertragen.

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