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Berlin Tag & Macht: Das große Zittern vor dem Mittelfinger | ABC-Z

Unsere Kolumnistin hat Verständnis dafür, wenn Menschen bei Scholz, Merz oder Habeck nicht vor Verzückung Schwindelanfälle bekommen. „Deswegen allerdings zum Kreml-Spin-Off AfD zu greifen, erscheint mir zukunftskognitiv etwas kurzatmig.“

Weniger als drei Wochen bis zur Bundestagswahl und im Regierungsviertel macht sich statt zuversichtlicher Vorfreude auf den Wahlabend zusehends German Angst breit. Wie einst auf die Verkündung der Abiturnoten zittert man dieser Tage in den Parteizentralen kaltschweißgebadet den neuesten Umfrageergebnissen entgegen. Und da wird viel gezittert, denn Umfragen kommen mittlerweile so gut wie täglich und das auch noch von unterschiedlichsten Meinungsforschungsinstituten. Im Prinzip gibt es alle vier Stunden einen neuen Zwischenstand. Da braucht man wirklich ein leistungsstarkes Politdeo.

Wie es im Konrad-Adenauer-Haus, dem Willy-Brandt-Haus, der Bundesgeschäftsstelle der Grünen oder im Hans-Dietrich-Genscher-Haus aktuell konkret riecht, kann ich nicht mit Gewissheit sagen. Die umfragengesteuerte Verunsicherung jedoch breitet sich von dort tagesaktuell in die Fraktionen aus, bahnt sich dann ihren Weg durch die Parteiorgane und sickert am Ende an die politischen Basen durch, wo sie ihr trauriges Ende leider oftmals in parteisoldatischer Nibelungentreue findet, die sich dann in Form von unwürdigen Postings auf diversen Social-Media-Plattformen entlädt.

Angst essen Seele auf – und Kanzlerambitionen

Angst ist kein guter Berater. Und doch scheint das Zittern zwischen Reichstag und Bierzelten in der Parteiprovinz in diesem Februar nicht unbedingt an ungemütlichen Außentemperaturen zu liegen. Gegen Kälte hilft ein Mantel. Gegen wirre Panikmonologe vor laufenden Kameras auch – allerdings der des Schweigens. Allein: Es ist Bundestagswahlkampf, da scheint „Reden ist Silber, Schweigen ist Gold“ eher ein Serviervorschlag zu sein.

Und so macht sie sich also breit, die Angst, im präelektiven Winter der Wahrheit. Die sogenannten Linken haben Angst vor Friedrich Merz und jeder Menge unkontrollierter Remigration. Die sogenannten Rechten haben Angst vor Robert Habeck und der Masseneinwanderung von Wärmepumpen. Alle gemeinsam haben irgendwie Angst vor der AfD. Nur vor der SPD hat niemand Angst. Außer vielleicht Olaf Scholz, sollte er nach einem 15-Prozent-Wahlabend die Schlüssel vom Kanzleramt beim Concierge abgeben und sich mit einem letzten Abschiedsschmunzeln in der Elefantenrunde von der Spitzenpolitik verabschieden müssen.

Das „S“ in SPD steht für Etikettenschwindel

Während also die einst stolze Sozialdemokratie darauf hinwirkt, in einem saskiaesken Plattitüdenmarathon gleichzeitig den Nimbus der Volkspartei und das massentaugliche Gütesiegel Arbeiterpartei zu verzocken, haben sich die politischen Schmuddelkinder der von Lyrik-Papst Tino Chrupalla und Elon-Musk-Fangirl Alice Weidel geführten AfD längst als zweitstärkste Partei in die Prognoserealität eskaliert. Und es scheint sogar noch Luft nach oben zu geben. In den letzten „Wenn am Sonntag Bundestagswahl wäre …“-Stimmungsbarometern liegt die Union nur noch sieben Prozentpunkte vor der AfD. Wobei, das ist immer noch zweimal die FDP.

Blau, blau, blau blüht demnach nicht nur der Enzian. Blau, blau, blau blüht es auch auf den Balkendiagrammen der gängigen Umfrageinstitute. Daraus folgt eine zweifelsfreie Erkenntnis: Volksmusiker Heino kommt bei seinen politischen Prophezeiungen auf eine Trefferquote, deutlich beeindruckender als die seines Metier-Kollegen Michael Wendler („Im September 2021 sind alle Corona-Geimpften tot!“). Denn wenn wir mal ehrlich sind: Auch „Hoch auf dem gelben Wagen“ wird die Luft langsam dünn für Christian Lindner. Und das, obwohl der gelbe Wagen, mit dem der Chef des zur Partei gewordenen Frank Thelen durch die Talkshow-Studios des Landes brettert, mit ziemlicher Sicherheit ein Porsche ist.

Schnelligkeit ist nicht zwangsläufig die wichtigste Zutat für gute Politik. Man kann beispielsweise sehr schnell gemeinsam mit der AfD eine parlamentarische Mehrheit für einen Gesetzesentwurf simulieren. Um selbige dann zwei Tage später auch rechtskräftig durch den Bundestag zu bringen, reicht ein Acht-Gang-Doppelkupplungsgetriebe aber mitunter nicht. Man benötigt vor allem eine politische Einparkhilfe, die nicht aus einer Partei besteht, die vom Verfassungsschutz als rechtsextremistischer Verdachtsfall geführt wird und gegen die regelmäßig Hunderttausende Demokraten auf die Straße gehen.

Was wusste Heino?

Wo wir gerade dabei sind, widmen wir uns doch noch kurz dem wohl am meisten unterschätzten Politik-Nostradamus unserer Zeit: Dem Düsseldorfer Schlagerschlachtross Heino. Marie-Agnes Strack-Zimmermanns rheinischer Stadtkumpan prophezeite bereits 1972 in seinem Evergreen über Enzian einige heute als Tatsachen geltende Entwicklungen: Mit „Mit ihren ro-ro-ro-roten Lippen fing es an, die ich nie vergessen kann!“ ist wohl eindeutig die GroKo unter Angela Merkel und der nach wie vor in signifikanten Teilen der CDU grassierende Trennungsschmerz nach Muttis regulierender Hand gemeint.

Aber das ist noch nicht alles. Ein weiterer zentraler Satz dieses hellsichtigen Kleinods der Populärmusik lautet: „Bleib ich ja so gern am Wegrand stehn, denn das Schweizer Madel sang so schön.“ Das Schweizer Madel. Natürlich. Alice Weidel, ick hör dir trapsen. In deinen schneeweißen In-Sneakers, die du so gerne trägst. Heino auf der anderen Seite trägt selten Sneaker. Diese lückenlos evidenzbasierte Beweiskette zeigt dennoch eindeutig: Er darf unbestritten das Orakel von Delphi der Boomer-Generation genannt werden. An dieser Stelle noch kurz ein wichtiger Disclaimer: Das Orakel von Delphi war eine Weissagungsstätte im antiken Griechenland. Bitte nicht verwechseln mit Markus Söder, dem Orakel von Selfie. Dabei handelt es sich um eine Weißwurstvertilgungsstätte mit antikem Politikverständnis.

Scholz, Habeck, Merz – die drei Musketiere der Trostlosigkeit

Bei der Entscheidung, welcher Partei man am 23. Februar seine Stimme geben sollte, hilft leider auch der blaue Enzian nicht. Vielleicht aber, welcher nicht. Die demnächst mutmaßlich als zweitstärkste Partei in den 21. Bundestag einziehende AfD jedenfalls verspricht Alternativen, die in der Realität dann zumeist so aussehen: In einer kleinen Anfrage an den Bundestag wollte die AfD von der Bundesregierung wissen, wie sich „die Zahl der Behinderten in Deutschland seit 2012 entwickelt“ habe, insbesondere „durch Heirat innerhalb der Familie“. Und wie viele dieser Fälle Migrationshintergrund hatten. Etwas weniger verklausuliert: Wie viele Ausländer mit durch Inzucht bedingter Behinderung belasten unser Gesundheitssystem? Egal, wie oft man zu Demos gegen rechts aufruft – mit solchen Symbiosen aus Rassismus, Menschenverachtung und Intelligenzasketismus erreicht man hier mittlerweile wieder annähernd ein Viertel der Wähler.

Also: Was ist passiert? Ich verstehe jeden, der weder bei Scholz noch bei Merz oder Habeck vor Verzückung Schwindelanfälle bekommt. Ebenfalls verstehe ich jeden, der keinem dieser drei Bewerber um die politischen Lenksäulen der Bundesrepublik zweifelsfrei zutraut, er könne in unserem Land den Spirit der 60er-Jahre reanimieren. Damals stand hier die Wiege des Wirtschaftswunders. Vierzig Jahre Frieden, kontinuierliches Wachstum und Wohlstandsvermehrung folgten. Wer sich nach einer Renaissance dieser Perspektiven sehnt, findet bei den oftmals als „Altparteien“ desavouierten Etablierten vielleicht nicht sofort alle erwarteten Antworten. Deswegen allerdings zum Kreml-Spin-Off AfD zu greifen, erscheint mir zukunftskognitiv etwas kurzatmig. Die AfD wird unserem Land den Spirit der 60er-Jahre definitiv nicht einhauchen. Das sage nicht nur ich, das sagen vor allem alle relevanten Wirtschaftsbosse und Industrievertreter. Viel eher besteht die Gefahr, uns am Ende im Spirit der 30er-Jahre wiederzufinden. Die Wiege der politischen Ära, die von dieser Phase eingeläutet wurde, sollte jedem bekannt sein. So betrüblich es also auch erscheinen mag, aktuell nirgends mehr eine eindeutige politische Heimat zu sehen, so sollten wir bei unserer Wahlentscheidung die Grenzen des demokratischen Spektrums nicht aus den Augen verlieren. In Zeiten, in denen soziale, ökologische, wirtschaftliche und viele andere Herausforderungen und so viele Konfliktherde wie nie zuvor auf die neue Bundesregierung warten, könnte es womöglich angebracht sein, sich für das kleinere Übel zu entscheiden. Und nicht für den größtmöglichen Mittelfinger.

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