Zensus in Bayern: Warum fehlen auf einmal so viele Bürger in den Gemeinden? – Bayern | ABC-Z

Dass statistische Angaben keine exakten Daten sind, zeigt sich auch an anderen Einträgen für Schleching. Unter den 1668 Einwohnern der Gemeinde im Landkreis Traunstein sind laut der amtlichen Bevölkerungsstatistik zum Beispiel genau vier US-Bürger – und von diesen vier sind vier Männer und drei Frauen. Dass da gerundet wird und dann eventuell nicht alles aufgeht, schickt das Statistische Landesamt seinen „Zahlen und Eckdaten“ zum Zensus 2022 voraus. So einen Bericht hat die Behörde nicht nur für Schleching verfasst, sondern für alle 2056 bayerischen Gemeinden. Seither geht in den Rathäusern des Freistaats fast flächendeckend die Angst um.
Manche Angaben würden „aus Geheimhaltungsgründen auf volle zehn Personen gerundet“, heißt es in den Berichten weiter. Aber zehn Schlechinger mehr oder weniger hätten den Gemeinderat neulich nicht so beschäftigt. Schon eher die 1668 Einwohner. Denn das wären um 270 weniger als die Gemeinde selbst annimmt, dass sie hat – ein plötzlicher Bevölkerungsschwund um etwa ein Siebtel. Und weniger Einwohner bedeutet für die Gemeinde weniger Geld.
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Etwa 90 Prozent aller Kommunen erhalten für ihre Aufgaben sogenannte Schlüsselzuweisungen vom Staat. Mehr als 4,85 Milliarden Euro sind heuer im Topf, davon 3,1 Milliarden für die Gemeinden. Wer wie viel bekommt, richtet sich auch nach der offiziellen Einwohnerzahl, andere Förderungen orientieren sich zumindest daran. In der Hinsicht sei jeder Einwohner für die Gemeinde zwischen 700 und 1000 Euro wert, sagt Schlechings Geschäftsleiter Martin Plenk – und eine insgesamt sechsstellige Summe macht für eine kleine Gemeinde schon einen Unterschied.
Dabei hat sich der Schwund in Schleching schon wieder verringert. Denn die Gemeinde hat den Zahlen des Landesamts im Herbst widersprochen und nun den endgültigen Bescheid erhalten: Demnach gibt es nun doch 1797 Schlechinger, also nur noch 141 weniger als jene 1938 Erstwohnsitze, welche die Gemeinde im eigenen Melderegister verzeichnet. Dieses Register werde pflichtgemäß und penibel geführt, betont Geschäftsleiter Plenk, und auch von den Wahlbenachrichtigungen zur jüngsten Bundestagswahl habe man keine zurückbekommen. Doch was zählt, ist der Zensus.
Den gab es bundesweit zum Stichtag 15. Mai 2022, damals wegen Corona um ein Jahr später, als es der in der EU verabredete Zehn-Jahres-Zyklus vorgesehen hätte. Der Zensus stützt sich durchaus auf die Melderegister der Kommunen. Zugleich hat er zum Ziel, deren Zahlen zu bereinigen und zu korrigieren. Dazu gab es laut dem Statistischen Bundesamt Stichproben und Befragungen. Ihre Ergebnisse wurden dann hochgerechnet, und zwar „nach wissenschaftlichen Standards“, wie die Bundesbehörde in ihrem Bericht zum Zensus betont.
Die Gemeinden erhielten am Ende aber nur neue Einwohnerzahlen. Über konkrete und womöglich wirklich fehlerhafte Einträge in ihren Registern dürfen sie von den Statistikern nichts erfahren, was das Bereinigen nicht erleichtert. Dieses sogenannte Rückspielverbot soll die Daten der einzelnen Bürger schützen und geht zurück auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1983 zur damals geplanten und äußerst umstrittenen Volkszählung.
Im strengen Sinn gezählt wurde beim Zensus von 2022 nicht
Im strengen Sinn gezählt wurde beim Zensus von 2022 nicht. Dafür haben die Statistiker Daten abgeglichen. Als Fehlerquellen in den nirgends zentral zusammengeführten Registern sehen sie vor allem Wohnortwechsel an, die den Gemeinden nicht gemeldet werden. Unterlassene Ab- und Ummeldungen vermuten sie etwa bei jüngeren Menschen, die auswärts studieren oder eine Ausbildung machen, oder bei Menschen, die ins Ausland ziehen und dabei die deutschen Meldemodalitäten schlicht hinter sich lassen.
So lebten demnach 2022 in ganz Deutschland rund 82,7 Millionen Menschen, etwa 1,4 Millionen weniger als erwartet. Mit allein einer Million führten die Statistiker den Großteil des Effekts auf die 10,9 statt zuvor 11,9 Millionen ausländischer Staatsbürger zurück. Viele könnten demnach in ihre Heimatländer zurückgekehrt sein, ohne sich abzumelden, hieß es dazu, wobei Migrations- und Fluchtbewegungen sehr dynamisch sind und der Stichtag kurz nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine lag.
Dem Freistaat billigten die Statistiker vermeintlich exakt 13 039 684 Einwohner zu, um 2,2 Prozent weniger als angenommen. Entsprechend haben die meisten Gemeinden ein Minus gemacht. Am heftigsten hat es die Mini-Gemeinde Balderschwang im Allgäu erwischt. Von zuvor 374 Einwohnern hat das Landesamt 142 gestrichen – ein Minus von 38 Prozent in einem Ort, in dem praktisch jeder jeden kennt. Statt der errechneten 232 Einwohner gab die Gemeinde selbst zuletzt 239 an.
Die Gemeinde Chiemsee verlor 15,5 Prozent ihrer Einwohner
Bayerns sowieso schon allerkleinste Gemeinde Chiemsee verlor 35 Einwohner oder 15,5 Prozent auf 191 Einwohner; das große Landshut schrumpfte um 8,9 und Regensburg um 6,7 Prozent. Zu den wenigen Gewinnern zählt Würzburg mit plus 2,6 Prozent und als Spitzenreiter Hohenburg in der Oberpfalz, das demnach um 9,7 Prozent auf 1706 Einwohner gewachsen ist.
Wie das alles genau zustande gekommen sein soll, versteht man weder in den Rathäusern noch beim Bayerischen Gemeindetag als Interessenvertretung. „Viele Ergebnisse sind für uns nur schwer nachvollziehbar“, sagt dessen Vize-Direktor Georg Große Verspohl. Denn die Gemeinden könnten die statistischen Daten wegen des Rückspielverbots eben nicht überprüfen. Trotzdem haben neben Schleching auch viele andere Einspruch erhoben – oft mit Erfolg, sagt Große Verspohl, der aus den unterschiedlichsten Rathäusern die Formulierung „wie im Basar“ gehört hat. „Das Verfahren wirft erhebliche Fragen auf, auch was die Verlässlichkeit angeht.“
Eine förmliche Widerspruchmöglichkeit gegen den neuen Bescheid ist nicht vorgesehen, es bliebe nur eine Klage. In Mecklenburg-Vorpommern gehen rund ein Viertel der Gemeinden diesen Weg. In Bayern schrecken die meisten vor dem Aufwand zurück, andere überlegen noch. Von einer bereits eingereichten Klage weiß man beim Gemeindetag jedenfalls nichts. Man habe es den Mitgliedern auch nicht empfohlen, sagt Große Verspohl. Denn für den ebenfalls umstrittenen Zensus von 2011 ist das statistische Verfahren 2018 vom Verfassungsgericht bestätigt worden. Und was die Schlüsselzuweisungen betrifft, so zähle ja eigentlich jede Gemeinde zu den Gewinnern, die statistisch weniger geschrumpft ist als der ganze Freistaat mit seinen minus 2,2 Prozent.
In Schleching hat sich unterdessen die Zahl aus dem Melderegister der amtlichen Einwohnerzahl etwas angenähert. Laut Geschäftsleiter Plenk waren dort Mitte Mai dieses Jahres 1884 Menschen gemeldet, nur noch um 87 weniger als nach der Statistik.