Frankfurter Nordwestzentrum: Lauter Knall löst Massenpanik und Fake News aus | ABC-Z

Drei Tage ist es her, dass das Nordwestzentrum nach einem Verdacht auf eine Amoktat geräumt worden ist. Und obwohl inzwischen alles darauf hindeutet, dass Silvesterböller den Alarm ausgelöst haben und nicht, wie zunächst befürchtet, Schüsse gefallen sind, wird in den Sozialen Netzen zum Teil eine andere Geschichte erzählt.
Dort ist davon die Rede, dass die Wahrheit verschwiegen werden solle. Dass Dinge verheimlicht würden. Es könne sich gar nicht so zugetragen haben, wie nun behauptet werde. Die Böller-Erklärung sei Unsinn. Unmengen an Videos wurden hochgeladen, die nach ersten Erkenntnissen zwar das reale Geschehen am Samstag zeigen, etwa, wie die Menschen in Panik aus dem Einkaufszentrum geflohen sind – aber mit einer ganz eigenen Interpretation.
In mindestens einem Video ist ein Blutfleck auf dem Boden zu sehen, was gleich mehrere Kommentatoren zu der Frage veranlasst, was sich an jenem Samstagnachmittag tatsächlich im Nordwestzentrum ereignet habe. „Das Blut ist nur aus Langeweile aufm Boden oder was?“, schreibt jemand. Ein anderer: „Hab das Gefühl das einiges einfach vertuscht werden soll…“. Dann meldet sich auf Tiktok ein Nutzer, der offenbar in Eile in abgehacktem Deutsch schreibt: „Es wahr 15:20 Uhr freute und Leute wurden angeschossen. Wie kann sich 8 memschen durch Böller verletzen“. Als ihn jemand darauf hinweist, dass Menschen in der Massenpanik gestürzt seien, antwortet er: „Also wier ukd viele andere habn den wahren Ablauf gesehen!“
Besucher filmen Einsatz der Polizei
In einem weiteren Chat heißt es: „Also die vertuschen was. Das haben sie mit dem Amoklauf im OEZ in Mümchen auch gemacht.“ Und: „Wir glauben immer noch das es kein Böller war. (…) Augenzeugen haben uns draußen was ganz anderes erzählt sie haben wohl jemand gesehen mit ner Waffe. Mal abwarten ob noch was anderes raus kommt oder ob die Wahrheit vertuscht wird.“ Und so geht es weiter. Zu jedem Video gibt es einen Chat. Und in jedem Chat gibt es eine eigene Wahrheit. In den meisten Fällen lautet das Fazit: Es kann nicht so sein, wie die Behörden es einem weismachen wollen.
Die Polizei kennt das Phänomen. Noch während der Einsatz lief, wurden die ersten Videos in den Sozialen Netzen hochgeladen. Auch wer sich zu diesem Zeitpunkt nicht im Nordwestzentrum befand, konnte mitverfolgen, was sich dort ereignete. Man sieht fliehende Menschen. Besucher in Panik. Andere in Schockstarre, wie sie offenbar hilflos stehenbleiben. Verhaltensweisen, die ein Psychologe als normal bezeichnen würde in einer potentiellen Gefahrensituation, die zu diesem frühen Zeitpunkt niemand vollständig deuten kann.
Plötzlich schauen alle auf ein Frankfurter Einkaufszentrum
Doch auch, als Minuten nach Meldung der ersten Knallgeräusche Einsatzkräfte der Polizei das Zentrum erreichten und sich zunächst auf das Schlimmste vorbereiteten, nämlich tatsächlich eine Amoktat oder einen Terrorakt, wurde die Szenerie von vielen Besuchern weiter gefilmt. Man sieht, wie schwer bewaffnete Beamte durch das Zentrum streifen, Geschäft für Geschäft durchsuchen, bemüht darum, sich einen Überblick zu verschaffen und nichts zu übersehen. Auch diese Bilder landen im Netz. Die Welt wird Zeuge eines Vorfalls, der zuerst an eine Amoktat denken ließ und wahrscheinlich nichts anderes war als eine Böllerei von Jugendlichen.
Doch was einmal im Netz gelandet ist, bleibt dort nicht ohne Reaktion. So teilt die Polizei mit, dass sie Inhalte, von denen sie Kenntnis erlange, sichte und bewerte. Wie ein Sprecher sagt, können derartige Videos für die weitere Erkenntnisgewinnung hilfreich sein, sofern sie das reale Geschehen abbilden. Die Polizei beobachte die Sozialen Medien und nutze etwa die Videos, um Erkenntnisse zu gewinnen, gegebenenfalls auch für die Strafverfolgung.
Andererseits gebe es aber immer auch die Gefahr, dass es sich um gefälschtes Material handele: um Bilder, die in einem ganz anderen Kontext entstanden seien, manchmal sogar an anderen Orten. Das werde abgeklärt. Dass das Netz innerhalb von Minuten geflutet werde mit Bildern von Großeinsätzen, sei für die Polizei kein neues Phänomen, sagt der Sprecher weiter. Es werde aber dann zum Problem, wenn in der Dynamik des Geschehens Kommentare, Videos und Bilder so schnell das öffentliche Bild bestimmten, dass es für die Ermittlungsbehörden sehr schwer werde, die Inhalte zeitnah auf ihre Plausibilität zu prüfen.
Im Nachgang passiere jetzt aber genau das. „Die Einsätze werden nachbereitet, auch im Hinblick auf Social Media.“ Dabei würden die Informationen, die dort verbreitet worden seien, „fortlaufend bewertet, auch im Hinblick darauf, ob sie möglicherweise Informationslücken offenbaren“.
Polizei kontaktiert mutmaßliche Augenzeugen
Aber auch Fehlinformationen habe man im Blick, „um darauf möglichst schnell mit gesicherten Informationen zu reagieren“. Die Polizei nehme wahr, wie groß offenbar das Bedürfnis vieler Menschen sei, bei größeren Einsätzen wie dem im Nordwestzentrum Informationen möglichst schnell zu teilen. Die Folge sei, dass dadurch auch ungesicherte Informationen verbreitet würden, „die Menschen verunsichern und in Panik versetzen können“.
Der Grundsatz „Richtigkeit vor Schnelligkeit“ spiele bei privat geteilten Videos oft keine Rolle. Und auf noch einen Punkt weist die Polizei hin. Durch Videos, die quasi in Echtzeit ins Netz geladen würden, bestehe die Gefahr, dass die Arbeit der Einsatzkräfte behindert und dem Täter ein Vorteil verschafft werden könnte. „Wenn auf den Videos Polizisten zu sehen sind, könnten potenzielle Täter Rückschlüsse darauf ziehen, wo sich die Beamten aufhalten.“
Die Sichtung der zahlreichen Videos, die auf Tiktok, Instagram, Facebook oder anderen Kanälen zu finden sind, wird nach Schätzung der Polizei noch viele Tage dauern – zumal die Inhalte nicht nur auf Echtheit geprüft werden. Auch die Personen, die Hinweise gepostet haben und angeben, sie seien Augenzeuge, werden ausfindig gemacht und kontaktiert. Wenn, wie in dem Tiktok-Kommentar, jemand behauptet, eine Person mit Waffe gesehen zu haben und dass Menschen angeschossen worden seien, wird das nicht ignoriert, wie der Sprecher weiter sagt.
Die Sache mit dem Blutfleck habe sich inzwischen geklärt. Es habe tatsächlich eine stark blutende Person gegeben, die mit einem Rettungswagen ins Krankenhaus gebracht worden sei, sagt der Sprecher. Sie habe aber keine Schussverletzung gehabt, sondern sich beim Sturz in der Massenpanik eine Platzwunde am Kopf zugezogen.
In den Sozialen Netzen weist der Kommentar eines Nutzers darauf hin. Die Antwort: „Die Verletzungen sahen nicht aus wie bei einem Sturz.“ Schließlich folgt ein Vorschlag: Die Verletzten sollten selbst mitteilen, was geschehen sei. Vermutlich haben sie erst einmal damit zu tun, das Erlebte zu verarbeiten.




















