Colette: Das menschlichste Herz | ZEIT ONLINE | ABC-Z

Ihr ganzes Leben war ein Manifest der Freiheit und der Liebe und des selbstbestimmten Lebens. Und sie hat das alles aufgeschrieben. Sie hat den ganzen herrlichen Stoff ihrer Romane erst einmal vorausgelebt, hat die Liebesgeschichten sozusagen erst einmal live komponiert und mit ihren Geliebten, den Frauen, den Männern, den Jungs, dem Stiefsohn gemeinsam erlitten, erfeiert, erstritten, erlebt. Und dann in Schrift verwandelt, in Romane, die so lebendig waren und voller Pathos und Ich-Bewusstsein und Stärke, dass die Leserinnen und die Leser sich darin aufhalten konnten, als wäre es ihr eigenes Leben: Sidonie-Gabrielle Claudine Colette – oder für die Welt einfach nur schlicht Colette, 1873 in Burgund auf dem Land geboren, schrieb früh für ihren ersten Mann, einen Musikkritiker, der sich Willy nannte, erotische Romane über die sexuelle Erweckung einer jungen Frau aus Burgund, die nannte sie Claudine. Vier Bände schrieb sie, die erschienen mit großem Erfolg unter seinem Namen, sie verkauften jede Menge Claudine-Merchandising-Produkte, Claudine-Parfum, -Kragen, -Hüte, -Handschuhe, -Zigaretten. Willy betrog sie, sie ihn auch, er verließ sie und nahm die Romane und die Rechte daran mit. Ihr doch egal. Sie hatte ja sich selbst und ihr Leben als Material. Das wurde immer bunter und freier, sie tanzte barbusig im Moulin Rouge, spielte in einem Theaterstück eine Mumie, die, zum Leben erweckt, einen Archäologen küsst, der wurde jedoch gespielt von einer Frau, auch noch die Nichte Napoleons III., die Polizei schritt ein und verbot das Stück. Sie heiratete noch zweimal, wurde Feuilletonchefin der Zeitung Le matin, eröffnete einen Schönheitssalon, hatte eine mehrjährige Affäre mit ihrem Stiefsohn und schrieb darüber ihren besten Roman: Chéri. Er ist wunderschön, sorglos, glatte Haut, schlichtes Gemüt, verwöhnt von Geburt an und ihr, Léa, ganz und gar verfallen. Sie ist doppelt so alt wie er, frei, stark, unabhängig von den Meinungen der Welt. Sie zeigt ihm alles, was er wissen muss, zeigt ihm, was an großen Gefühlen möglich ist auf dieser Welt. “Ein erdrückendes und köstliches Gewicht hatte sich auf ihn gelegt. ‘Ach’, sagte er ganz leise, ‘ist das also das Glück …? Ich habe nicht gewusst …'” Und schon wird er wieder davongerissen. Irgendwann beschließen sie, dass diese Liebe nicht vernünftig ist, Chéri heiratet eine gleichgültige junge Frau. Léa ist stark, reist ab, kommt zurück, bleibt stark. Leider ist das schöne Bürschchen weniger stark und klug. Er kommt zu ihr zurück. Und die Schutzmauern, die sie um sich errichtet hat, werden brüchig: “Ein leises, ersticktes Lachen, das sie nicht zu unterdrücken vermochte, warnte Léa, dass sie im Begriff war, sich der ungeheuerlichsten Freude ihres Lebens hinzugeben. Eine Umarmung, das Hinstürzen, das aufgeschlagene Bett, zwei Körper, die zusammenwachsen wie die beiden lebendigen Teile eines einzigen zerteilten Tieres …” Marcel Proust sagte über Colette, nachdem Chéri 1920 erschienen war, “sie hat das menschlichste Herz der modernen französischen Literatur”, in Deutschland fand man bislang immer, dass dies Herz ein bisschen allzu menschlich sei und überhaupt zu gefühlvoll und pathetisch sei. Komplett falsch. Das können Sie jetzt in der neuen Übersetzung von Renate Haen und Patricia Klobusiczky überprüfen, die gerade bei Manesse erschienen ist, das Nachwort von Dana Grigorcea ist auch sehr interessant.