Seefeld: Wie der Kontakt zu Tieren Demenzpatienten hilft – Bad Tölz-Wolfratshausen | ABC-Z

Gisela S. streicht liebevoll über das braun-weiß gefleckte Fell des Meerschweinchens. Das Tier gluckst leise und schaut mit schwarzen Knopfaugen zu ihr auf. „So eine Feine“, sagt die 83-jährige aus Herrsching mit sanfter Stimme. Bettina Hartwanger von der Fachstelle für Senioren im Landratsamt Starnberg hat ihr das Tier auf den Schoß gesetzt. „So brav“, sagt Gisela S. und streichelt das weiche Köpfchen. In diesem Moment zählt für sie nur das kleine Wesen auf ihrem Schoß. Kein Datum, kein Name oder Wort, das ihr gerade nicht einfallen will, keine Fragen, auf die sie keine Antwort weiß. Nur Meerschweinchen Henriette, das sich warm und lebendig anfühlt und einfach die Zuwendung genießt.
Darum geht es auf dem Auszeithof der Familie Berchtold in Unering, einem Ortsteil der Gemeinde Seefeld (Landkreis Starnberg): einen Nachmittag lang dem Alltag mit seinen Anforderungen zu entfliehen. Im Rahmen der Bayerischen Demenzwoche hat der Arbeitskreis der demenzfreundlichen Kommune eine Gruppe von Seniorinnen und Senioren nach Unering eingeladen. Solche Nachmittage auf einem „Auszeithof“ mit erlebnisorientierten Angeboten finanziert der Bayerische Demenzfonds. „Einmal im Monat werden die Kosten übernommen“, erklärt Bäuerin Brigitte Berchtold. Es kommen Nachbarschaftshilfen, Altenhilfeeinrichtungen und Seniorengruppen.
Im Landkreis Starnberg gibt es zwei „Auszeithöfe“: neben dem Erlebnisbauernhof in Unering noch den Würmseefelder Hof der Familie Ortner in Andechs-Machtlfing. Im Landkreis Bad Tölz-Wolfratshausen lädt Eleonora Stöckl auf den Schusterhof nach Dietramszell. Fernab von Hektik und Stress können Seniorinnen und Senioren mit Demenz und ihre Angehörigen die ländliche Idylle erleben. Sie können Tiere streicheln, große Landmaschinen bestaunen, Kaffee und Kuchen genießen und eine unbeschwerte gemeinsame Zeit verbringen. Etwas, das im Alltag oft zu kurz kommt.
Der Nachmittag in Unering beginnt in der Scheune. Hier stehen die Kaffeetassen und Kuchenplatten schon bereit. Es duftet nach Auszognen, frischem Blechkuchen und Kaffee. Die Senioren greifen beherzt zu. „Ein Ausflug ohne Kuchen, das wäre doch undenkbar“, sagt Brigitte Berchtold und lacht. Ein Mann bewundert einen alten Eicher-Bulldog, Baujahr 1960. „Mein Mann ist Landmaschinenmechanikermeister und sammelt Traktoren“, erzählt Bäuerin Berchtold und zeigt in die Scheune, wo verschiedene Oldtimer aufgereiht sind. Das älteste Modell wurde noch vor Kriegsende in den 1940er-Jahren gebaut und ist so alt wie Gisela S., die die riesigen Reifen bewundert.


Dann beginnt der Rundgang über den Hof und die Begegnung mit den Tieren. Im Garten stehen die Gehege für die Kleintiere. Die Senioren bekommen Grünzeug zum Verfüttern und Streicheltiere auf den Schoß gesetzt. Eine Frau wiegt Meerschweinchen Sissi wie ein Kind im Arm. Auch Landrat Stefan Frey hat sich der Gruppe angeschlossen und krault Kaninchen Olaf versonnen zwischen den Ohren. Gisela S. sitzt mit ihrem Meerschweinchen auf einem Stuhl neben den Ställen. Sie hat Alzheimer.
Vor zehn Jahren begannen die ersten Anzeichen, damals verlegte sie Schlüssel und vergaß Termine. Die Ärzte schoben es zunächst auf Stress. Doch die Vergesslichkeit wurde stärker. Sie fand vom Einkaufen nicht mehr nach Hause, schrieb unzählige Merkzettel, hielt an einer äußeren Fassade fest. „Die Welt ist so komisch geworden“, klagte sie. Die eloquente Unternehmensberaterin, die ein Organisationstalent war und stets alle Telefonnummern im Kopf hatte, brauchte immer mehr Unterstützung. Heute lebt sie in einem Pflegeheim nahe bei der Familie. Worte fehlen ihr oft, viele Lebensstationen sind verblasst. Doch ihre Sinne funktionieren, sie fühlt, hat Emotionen, ist empfindsam.


Als die Gruppe den Stall betritt, lässt die Bäuerin tief Luft holen. „Riecht ihr den Stallgeruch?“, fragt sie. Die Kühe schnauben den Besuchern entgegen. Die Senioren werfen Körner in die Tröge, halten Heu hin. Eine Kuh streckt die nasse tropfende Zunge heraus und zieht das Büschel an sich. Eine Seniorin lacht laut, während Gisela S. lieber einen Schritt zurückgeht. Die großen Köpfe, die sich ihr entgegenstrecken, sind ihr nicht geheuer. Doch dann huscht ein Lächeln über ihr Gesicht. „Die hat Hunger“, sagt sie und deutet auf eine Kuh.
Berchtold führt die Gruppe weiter zu den Wiesen hinter dem Hof. „Komm, Weibi, auf geht’s“, ruft sie der Leitkuh zu. 20 Tiere leben hier im Mutterkuhbetrieb. „Das bedeutet, dass die Kälber bei ihren Müttern auf der Weide bleiben dürfen“, erklärt die Bäuerin. Tatsächlich: Nach einer Weile setzen sich die Pinzgauer Kühe, die Belgier und das schwarze und braune Fleckvieh mit den vier Kälbchen in Bewegung. Gemächlich trotten die Rinder in den Stall, wo die Senioren schon mit geschrotetem Getreide und Heu warten.
Zum Abschluss geht es zu den Hühnern. Der Boden im Auslauf ist matschig, es hat geregnet. Gisela S. runzelt die Stirn. „Das mag ich nicht“, sagt sie und zeigt auf den Matsch. Doch sie wirft Körner und beobachtet aufmerksam, wie die Tiere flattern und picken.
Auf einem Tisch liegen Infokarten der Alzheimer Gesellschaft zum Mitnehmen: Hinweise zur besseren Verständigung mit Demenzkranken, Kärtchen mit der Aufschrift „Ich habe Demenz. Bitte haben Sie etwas Geduld“. Und Praktische Tipps für den Alltag, der für Angehörige oft schiere Überforderung ist. An diesem Nachmittag ist nichts davon zu spüren. Und als Bauer Schorsch mit seiner zweijährigen Enkelin über den Hof kommt, hellen sich die Gesichter der Seniorinnen und Senioren noch mehr auf.

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Mehr als 270.000 Menschen mit Demenz leben in Bayern, in fünf Jahren sollen es laut Gesundheitsministerin Judith Gerlach schon 300.000 sein. Mehr als drei Viertel aller Pflegebedürftigen werden zu Hause versorgt – von Angehörigen, die oft an ihre Grenzen kommen. Für sie sind solche Nachmittage auf dem Hof eine Entlastung. Sie bringen Abwechslung, ein Stück Normalität, manchmal auch das Gefühl, nicht allein zu sein. Denn Demenz betrifft nie nur den Erkrankten. Sie verändert auch das Leben der Familien, stellt sie auf die Probe, verlangt Kraft, Geduld und das Aushalten von Veränderungen.
Gisela S. sagt irgendwann unvermittelt: „Meine Großmutter habe ich auch schon lange nicht mehr besucht.“ Ob es der Duft von Heu war oder das weiche Fell des Meerschweinchens – irgendetwas hat eine Tür in die Vergangenheit geöffnet. Am Ende dieses Nachmittags zählt kein Pflegegrad, keine Diagnose. Gisela S. steigt fröhlich ins Auto. Meerschweinchen Henriette ist bald vergessen, die Erinnerungen schwinden, die Gefühle aber halten an.





















