Es wird viel erklärt und wenig verboten | ABC-Z

Elternsein war eigentlich nie leicht. Die eigenen Bedürfnisse zurückzustellen, ein Kind für Brokkoli zu begeistern und zum 23. Mal „Oh, wie schön ist Panama“ vorzulesen, stellte auch schon vor dreißig Jahren eine gewisse Herausforderung dar. Doch mittlerweile machen Eltern es sich und ihren Kindern besonders schwer – so sehr, dass sie ihre geistige Gesundheit gefährden.
Siebzig Prozent der Eltern gaben 2024 in einer Forsa-Umfrage an, sich ausgebrannt zu fühlen, und vierzig Prozent fühlen sich in stressigen Situationen depressiv – deutlich mehr als noch fünf Jahre zuvor. Viele glauben, der Stress habe in den vergangenen Jahren zugenommen. In den Vereinigten Staaten finden sechs von zehn Müttern und Vätern, Elternsein sei heute deutlich schwerer als noch zu den Jahren ihrer Kindheit.
Es wird viel erklärt und wenig verboten
Daran sind auch gesellschaftliche Probleme schuld, die sich an Abendbrottischen und in Kinderzimmern bemerkbar machen – allen voran die Omnipräsenz von Mobiltelefonen und dem Internet mit seinen unendlich vielen Verlockungen, aber auch finanzielle Nöte der Eltern oder die Nachwehen der Pandemie-Lockdowns. Doch die Mütter und Väter quälen sich darüber hinaus mit ihren Ansprüchen an die Erziehung ihrer Kinder selbst. Elternsein habe eine „Intensivierung“ erfahren, heißt es im Familienbericht der Bundesregierung aus dem Jahr 2021. In den USA warnt sogar der oberste Gesundheitsinspektor vor dem Stress des modernen Elternseins. Eltern verwendeten alle mobilisierbare Zeit, Energie und finanzielle Ressourcen darauf, ihr Kind auf jede erdenkliche Weise zu fördern, weit über musikalische Früherziehung und Nachhilfeunterricht hinaus.
In den USA widmen Mütter ihren Kindern heute vierzig Prozent mehr Zeit als noch Mitte der 1980er-Jahre. Und auch in Deutschland ist die Zeit, die Eltern aktiv mit ihrem Nachwuchs verbringen, laut Familienbericht in den vergangenen Jahren „erheblich“ gestiegen. Wie es scheint, sind Eltern rund um die Uhr nicht nur Spielgefährten, sondern auch Psychotherapeuten ihrer Kinder, wobei jegliche Emotionen intensiv erörtert werden und die Bedürfnisse der Kinder im Vordergrund stehen. Es wird viel erklärt und wenig verboten.
Jetzt auch noch „Momfluencer“
Wie das richtig geht, machen „Momfluencer“ auf Internetplattformen vor. Vermutlich haben sich an Ostern viele Großeltern, Tanten und Onkel oder Freunde von jungen Familien selbst ein Bild dieses Erziehungsstils machen können: Eltern brüllen nicht „Nein!“, auch wenn das Kind die Tapete mit Filzstiften anmalt, sondern besprechen ausführlich und wertschätzend, welche Gefühle derartige Aktionen in ihnen auslösen. Auch wird einer schier unendlichen Serie von „Warum?“-Fragen wohl kaum noch mit einem „Darum“ ein Ende gesetzt. Und eher unterbrechen Mütter und Väter das gemeinsame Kaffeetrinken oder Abendessen, um mit dem Kind ein pädagogisch wertvolles Spiel zu beginnen, als dass es sich langweilt oder gar allein spielen soll.
Woher rühren diese Ansprüche? Wirtschaftliche Unsicherheit trägt sicherlich dazu bei, dass Eltern das Gefühl haben, ihren Kinder besonders gute Startchancen geben zu müssen. Auch haben sich viele Eltern wohl die Erkenntnisse der Psychologie zu Herzen genommen, dass Erfahrungen in der frühen Kindheit den Nachwuchs langfristig prägen – und glauben nun, jeder kleine Fehler ihrerseits könne das Kind traumatisieren und zu Alkoholsucht, Depressionen und einem gestörten Selbstwertgefühl verdammen. Die Persönlichkeit des Kindes erscheint als so fragil, dass man vom ersten Tag an mit besonderen Kniffen formen muss.
Kinder unter Leistungsdruck
Nun könnte man sagen, Kindererziehung sei die Sache der Eltern, und alle Kinderlosen sollten ihre Meinung erst recht für sich behalten. Doch wie die nächste Generation erzogen wird, hat auch gesellschaftliche Dimensionen. In manchen Kindertageseinrichtungen etwa werden Kinder schon lange nicht mehr in Gruppen eingeteilt, sondern sollen frei bestimmen, wo sie spielen und wann sie essen. Je nachdem, worauf sie gerade Lust haben. Man fragt sich, wie diese Kinder es später in der Schule schaffen sollen, konzentriert auf einem Platz zu sitzen. Oder gar einen Beruf zu ergreifen, in dem die eigenen Bedürfnisse nicht unbedingt im Vordergrund stehen und in der Regel auch niemand danach fragt, wie man sich gerade fühlt.
Studien suggerieren, Kinder von solch „intensiven“ Eltern sind später im Leben ängstlicher, häufiger deprimiert und unselbständiger. Viele Kinder spüren zugleich durch die unterschwelligen Erwartungen ihrer Eltern an sie großen Leistungsdruck. Und abgesehen davon: Wenn es etwas gibt, das Kinder garantiert nicht glücklich macht, sind es gestresste, sich selbst überfordernde und traurige Eltern.
Mit ihrem fehlgeleiteten Perfektionismus erweisen diese Mütter und Väter ihren Kindern also keinen Gefallen – geschweige denn sich selbst oder ihren Gästen an Familienfesten.