„Das ist keine Wahl, sondern ein schlecht inszeniertes Theaterstück“ | ABC-Z

Zum ersten Mal seit dem Sturz des Regimes des ehemaligen Machthabers Baschar al-Assad finden in Syrien Parlamentswahlen statt. Die für diesen Sonntag angesetzte erste Abstimmung für das Übergangsparlament soll einen Neuanfang für die Syrerinnen und Syrer bedeuten, die ihr Land nach über 50 Jahren Diktatur demokratisch aufbauen können.
Doch es gibt weder einen Wahlkampf noch konkurrierende Parteien. Damit zeichnet sich bereits jetzt ab, dass der Prozess zur Wahl einer neuen syrischen Volksversammlung alles andere als einfach sein wird. Schließlich handelt es sich nicht um normale demokratische Wahlen, sondern um indirekte Wahlen, die zahlreiche Kontroversen mit sich bringen.
„Was in Syrien stattfindet, ist keine Wahl“
Vor mehr als vierzehn Jahren gingen Hunderttausende Syrerinnen und Syrer auf die Straße, um gegen Assad und sein Regime zu protestieren. Dieser reagierte mit Folter und Gewalt. Der daraus resultierende Bürgerkrieg hat enorme Zerstörung, Millionen von Flüchtlingen und eine belastende wirtschaftliche Situation in Syrien hinterlassen. Moutasem Alrifai aus Daraa im Süden Syriens war einer von vielen Menschen, die für mehr Demokratie und Menschenrechte aufgestanden sind. Der heute 27-jährige Menschenrechtsaktivist hatte immer davon geträumt, in einem demokratischen Land aufzuwachsen.
Mit dem Sturz des Diktators am 8. Dezember 2024 hat Alrifai wieder Hoffnung, dass Syrien endlich eine Demokratie für alle Bürgerinnen und Bürger wird. Doch die Wahlen am Sonntag sind nicht der Wandel, den er sich für Syrien gewünscht hat. „Was in Syrien stattfindet, ist keine Wahl, sondern ein schlecht inszeniertes Theaterstück, das das Publikum für dumm verkauft“, sagte Alrifai im Gespräch mit unserer Redaktion.
Ein syrischer Junge steht unter einem riesigen Porträt des verstorbenen syrischen Präsidenten Hafiz Al-Assad, übermalt mit den Farben der sogenannten „revolutionären“ Flagge, in Damaskus.
© Hussein Malla/AP/dpa | Hussein Malla
Im neuen, vergrößerten Parlament sollen 210 Abgeordnete sitzen. Ein Drittel davon ernennt der Übergangspräsident, den Rest wählen Gremien, die aus Unterausschüssen entsprechend der Bevölkerungsverteilung der Provinzen gebildet werden. Zuletzt hatte das Parlament des Landes unter Assad, das rund 23 Millionen Einwohner zählte, nur 150 Sitze.
Syrien: Regierung spricht von einem einzigartigen Wahlsystem
Der Prozess zur Wahl der neuen Volksversammlung soll in mehreren Phasen ablaufen. Eine von De-facto-Machthaber Ahmed al-Scharaa ernannte elfköpfige Oberste Wahlkommission soll in den Wahlkreisen Wahlunterausschüsse ernennen, die wiederum ein Wahlkollegium von bis zu 50 Personen aus den jeweiligen Wahlkreisen ernennen sollen. Dessen Mitglieder sollen zu maximal 20 Prozent Frauen sein, um Vielfalt zu garantieren.
Mohammad Wali, Mitglied der Wahlkommission, betonte in einem Interview mit arabischen Medien, dass das derzeit geltende vorläufige Wahlsystem „ein für Syrien einzigartiges Modell ist, das indirekte Wahlen durch Unterkomitees und Wahlgremien vorsieht“. Es wurde als Reaktion auf die Umstände der Übergangsphase eingeführt.
Laut der Übergangsregierung in Damaskus ließen sich aktuell im Land keine Wahlen im herkömmlichen Sinne durchführen. Weil es immer noch Millionen syrische Binnen- und Auslandsvertriebene gebe. Viele von ihnen hätten keine offiziellen Dokumente, und die Rechtsstruktur sei fragil.
Neue Wahlen: Syriens Machthaber hat ein Vetorecht
Am Wahltag wählt das Wahlkollegium schließlich aus seinen Reihen die 140 Mitglieder des neuen syrischen Parlaments. „De facto erleben wir hier die Neuschöpfung eines reinen Applaus-Parlaments. Dieser Prozess wird vom neuen Regime und seinen Unterstützern als ‚Wahlen‘ bezeichnet, hat jedoch nichts mit einem demokratischen Prozess zu tun“, sagt Alrifai. Für ihn wird diese neue Volksversammlung kein unabhängiges Organ sein. Denn er diene nicht der Kontrolle der Regierung, sondern einzig dazu, die Entscheidungen des Präsidenten abzunicken und zu bejubeln.
Außerdem kann die Volksversammlung weder den Präsidenten noch die Minister zur Rechenschaft ziehen oder entlassen. De-facto-Machthaber Ahmed al-Scharaa hat hingegen ein Vetorecht gegen jeden Gesetzesentwurf, den das Parlament beschließen wird. Ein solches Veto kann nur durch eine anschließende Zweidrittelmehrheit der Mitglieder überstimmt werden. „Praktisch bedeutet das: Es genügt, wenn das von al-Scharaa direkt ernannte Drittel zusammen mit nur einer Stimme aus dem indirekt ernannten Zweidrittel gegen den Entwurf stimmt, um irgendein Gesetz zu stoppen“, erklärt Alrifai.
Kurden im Nordosten Syriens lehnen die Wahlen ab
Ursprünglich war die Wahl für den Zeitraum vom 15. bis 20. September angesetzt. Ende August erklärte die Wahlbehörde jedoch, dass die Wahl in den drei Provinzen Suwaida (im Süden) sowie Hasaka und Rakka (im Nordosten) aus Sicherheitsgründen auf Weiteres verschoben werden müsse. Tatsächlich kam es in diesen Gebieten in den vergangenen Monaten zu bewaffneten Kämpfen. Dabei wurden Tausende Menschen getötet.
Die Wahlen wurden jedoch vor allem deshalb verschoben, weil die syrische Übergangsregierung diese Gebiete nicht kontrolliert, sondern sie von den Drusen und Kurden regiert werden. Die Selbstverwaltung im Nordosten Syriens hat angekündigt, die „undemokratischen Wahlen, die nicht den Willen des syrischen Volkes widerspiegeln”, abzulehnen.
Auch im Süden wurden diese Wahlen abgelehnt. „Diese Regionen auszuschließen, ist es eine rein politische Entscheidung“, sagt der syrische Aktivist Odai, der seinen echten Namen nicht in der Zeitung lesen möchte, aus Angst, dass er und seine Familie in Suwaida verfolgt werden könnten. Für ihn ist der Ausschluss seiner Region von den Wahlen eine „kollektive Bestrafung“ für ihre Bürger. „Der Ausschluss schwächt Suwaida moralisch nicht – im Gegenteil, er zeigt die Angst des Regimes vor jedem Raum, in dem eine andere Meinung existiert“, erklärt der Aktivist.
Für ihn sind dies keine demokratischen Wahlen. Denn dadurch würden fast die Hälfte der Syrer von diesem Prozess ausgeschlossen. „Richtige Wahlen brauchen ein sicheres und freies Umfeld: unabhängige Parteien, freie Medien, Kontrolle und die Möglichkeit, dass Menschen kandidieren und kritisieren können, ohne Angst zu haben.“ Deshalb habe das Wort „Wahlen“ unter den aktuellen Umständen für ihn keine Bedeutung.
Syrien: NGOs kritisieren das Wahlsystem
Kritiker bemängeln zudem, dass al-Scharaas Einfluss auf das Parlament damit erheblich bleibt. Mitte September veröffentlichten vierzehn Menschenrechts- und zivilgesellschaftliche Organisationen eine gemeinsame Erklärung, in der sie das vorläufige Wahlsystem kritisierten. Sie bezeichneten es als „mit tiefgreifenden strukturellen Mängeln behaftet“, die es daran hindern, die internationalen Mindeststandards für politische Teilhabe zu erfüllen.
Hauptstadt Inside von Jörg Quoos, Chefredakteur der FUNKE Zentralredaktion
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Die Organisationen fordern außerdem die Abschaffung der Rolle des Übergangspräsidenten bei der Ernennung eines Drittels der Mitglieder der Volksversammlung sowie die Umstrukturierung der Wahlgremien in Absprache mit der syrischen Zivilgesellschaft und allen politischen Kräften, die in verschiedenen Regionen Syriens aktiv sind.













