Die Neue Rechte als staatszersetzende Idee? | ABC-Z

Was ist nur mit der Welt los? Man kann sich über die aktuelle Lage sehr wundern: Sind die Amerikaner jetzt völlig ab der Rolle? Was spielen die Tech-Milliardäre dabei für eine Rolle? Warum werden die Menschen wieder nationalistisch und fremdenfeindlich? Hatten wir das nicht überwunden?
Jeden Tag werden wir mit Artikeln überschwemmt, die diese und ähnliche Fragen beantworten wollen. Aber zu jedem Artikel gibt es einen, der das Gegenteil behauptet. Oder anders gesagt: zu jedem Trump-Hasser gibt es einen Trump-Unterstützer. Das ist denn wohl auch gleich die erste Charakterisierung der Situation: Tiefe Gräben spalten die Gesellschaften weltweit. Eine ernsthafte und friedliche Auseinandersetzung ist unter diesen Umständen nicht mehr möglich. Das macht die Situation so gefährlich. Nach meinen Kenntnissen von dynamischen Systemen – und eine Gesellschaft ist ein dynamisches System – wird sich eine Meinung entweder schlagartig durchsetzen wie eine Mode und die anderen Meinungen unterdrücken, oder es kommt zu einem Kollaps des Systems, was dann wohl Krieg bedeutet.
Ich habe ein paar weniger bekannte Fakten über die Neue Rechte zusammen getragen. Vielleicht nützt das beim Einordnen dessen, was gerade in der westlichen Welt abläuft.
Die „Influencer“ der Neuen Rechten
Wie soll man diese immer lauter werdende Bewegung bezeichnen? In den USA wird die neue rechtspopulistische Bewegung Alt-Right genannt. Der Begriff hat einer der ihren, Richard B. Spencer, geprägt. In Europa benutzt man die Begriffe Rechtsextremisten und Neonazis, zwei wenig spezifische Bezeichnungen. Oft wird fälschlicherweise auch der Begriff Faschismus verwendet, was aber unpassend ist. Der Begriff Faschismus geht auf das italienische Wort fascio zurück, was übersetzt Bündel bedeutet. Es kommt aus der römischen Kultur, wo Amtsträger Rutenbündel als Insignien hielten, so wie Könige mit Zepter und (Reichs-)Apfel ausgestattet sind. Im faschistischen Italien waren die fasci Kampfbünde, die sich für ihre Sache einsetzten. Das gibt es auch in anderen politischen Zusammenhängen und hat prinzipiell wenig mit Rechtspopulismus zu tun.
Libertarismus
Wichtiger ist die Frage, woraus sich die Bewegung nährt. In erster Linie ist es eine weitverbreitete Staatsverdrossenheit, die sich in der Gesellschaft immer mehr durchzusetzen scheint. Der Staat, ein anonymes Gebilde, gibt Regeln vor und setzt Vorstellungen durch, die noch aus dem 19. Jahrhundert stammen. In der Demokratie hat zwar jeder die Möglichkeit, auf den Staat Einfluss zu nehmen, aber dieser Einfluss ist so gering, dass sich die Anstrengung nicht lohnt. Ein Staat, der seit Generationen demokratisch ist, läuft wie ein Kreuzfahrtschiff. Es kann nicht schnell gestoppt und mit einem Elektromotor ausgestattet werden. Je besser die Demokratie in einem Staat verankert ist, desto weniger Einfluss haben die einzelnen Bürger und Beamte. Eine Staatsform ist etwas sehr komplexes. In Der grosse Gleichmacher habe ich geschrieben, dass sich Komplexität nicht einfach kontrollieren lässt. Darum wird Demokratie immer mehr als ineffizient angesehen. Gegen diese strukturelle Macht des Staates treten zusehends mehr und mehr Menschen an. In den USA beobachteten die Bürger die Reaktion der US-Regierung auf die Finanzkrise von 2008 und die Wahl Barack Obamas zum US-Präsidenten. Beides verstärkte ihre Überzeugung, dass sich die Geschichte unweigerlich in Richtung linksgerichteter und immer progressiverer Gesellschaften entwickelt, was vor allem bedeutet, dass arme und benachteiligte Menschen durch die Wohlhabenden unterstützt werden müssen.
(Aus: Key Thinkers of the Radical Right: Behind the New Threat to Liberal Democracy, Mark Sedgwick (ed.), eine Dokumentation, die 16 Denker der Neuen Rechten vorstellt, angefangen bei Oswald Spengler bis zu den aktuellen Blogger).
Insbesondere die immer zahlreicher werdenden Milliardäre ziehen dabei am selben Strick. Sie wollen mit ihren Milliarden machen, was sie für richtig befinden, ohne staatliche und bürokratische Regulierungen. Und sie wollen mit ihren Steuern nicht den Wohlfarhrtsstaat nähren. Dieser Standpunkt hat einen Namen: Libertarismus.
Der Begriff ist ein wahrer Sumpf. Es gibt mindestens vier Hauptrichtungen und zahlreiche Unterkategorien. Die vier Hauptrichtungen heissen: Minarchismus, Anarcho-Kapitalismus, Paläolibertarismus und natürlich der klassische Libertarismus/Liberalismus.
Liberalismus
Der Liberalismus geht auf die Aufklärung zurück und erlebte anfangs des 20. Jahrhunderts eine Neuinterpretation im Geiste der klassischen Nationalökonomie und der Freihandelslehre. Für mich interessant ist aber der Zusammenhang zum Individualismus, der mit der 1968er-Revolution die westlichen Gesellschaften erfasste. Individualismus hiess: Jeder ist für sein Leben und Schicksal selber verantwortlich. Es gibt keine übergeordnete moralische Instanz. In Abgrenzung zum Anarchismus akzeptiert der Individualismus jedoch staatliche Gesetze, insbesondere dann, wenn sie die Rechtsgüter des Individuums betreffen, also zum Beispiel Leben, Freiheit, Eigentum und Selbstbestimmung. Der politische Individualismus lehnt kollektiven Zwang ab.
Paläo-Libertarismus
Von solchen freigeistigen Trends der 60er Jahre will sich der Paläo-Libertarismus reinigen, um konservative Werte hervorzuheben (Kulturkonservatismus). Die christlichen Traditionen sowie die westliche Kultur werden verteidigt und Familie, Kirche und Gemeinde als Schutz gegen den Staat und als Bausteine für eine kommende staatslose Gesellschaft in den Mittelpunkt gerückt. (Aus Staat ohne Macht).
Mich wundert, dass Bürger, die solche Überzeugungen vertreten, einen wie Donald Trump zum Präsidenten wählten, wenn er doch den US-Staat great again machen will und Zölle erhebt, statt den Staat abzubauen. Trump ist kein libertärer. Die Entlassung von Beamten reicht dazu nicht aus. Ich denke aber, dass die Unterstützung Trumps eine Strategie ist: Trump ist einer, der alles durcheinander bringt und damit (hoffentlich) die Orientierungshilfe, die ein Staat geben soll, zusammenbricht. Das wird dann die Stunde Null der Libertären sein. Sie können den Staat begraben und die Politik den Milliardären überlassen.
Minarchismus
Im Minarchismus spielt der Staat eine minimale Rolle (sog. Nachtwächterstaat). Sie beschränkt sich auf den Betrieb von Parlamenten, Gerichten, Polizei, Gefängnissen und Streitkräfte, während andere ihm auch öffentliche Infrastruktur wie Währung, Straßenbau oder auch sehr viel weitergehende Einrichtungen wie Schulen und Krankenhäuser überlassen. Minarchisten sind aber Gegner der Wehrpflicht, der Schulpflicht, des Verbots von Drogen und der Verfolgung opferloser Straftaten.
Anarcho-Kapitalismus
Der Anarcho-Kapitalismus geht bedeutend weiter. 1973 veröffentlichte Murray Rothbard das libertäre Manifes: For a New Liberty. Er geht von einem einfachen Grundsatz aus: Kein Mensch und keine Gruppe von Menschen darf gegen die Person oder das Eigentum eines anderen aggressiv vorgehen. Dem werden nur wenige widersprechen – jedenfalls, solange sie die Konsequenzen nicht zu Ende gedacht haben: Besteuerung ist Diebstahl, Wehrpflicht ist Sklaverei und Krieg ist Massenmord, um nur einige Punkte zu nennen.
In der Rezension des Manifests steht:
Das ist wirklich aufrüttelnd! Doch nach Murray ist der Staat der Hauptverletzer dieses einfachen Axioms. Er nimmt sich das Recht heraus, zu rauben und zu töten, während er vorgibt, uns vor Raub und Mord zu schützen. Daraus ergibt sich eine umfassende Staatstheorie: wie der Staat Kontrolle über die Bevölkerung gewinnt und aufrechterhält (und zwar nicht durch einen „Gesellschaftsvertrag“!), die verschiedenen gescheiterten Versuche, ihn in Schranken zu halten (nicht einmal Verfassungen funktionieren!), seine Funktionsweise und sein Hang zum Machtmissbrauch (er hat nie genug Macht), und wie Intellektuelle von den Kräften der Staatsmacht vereinnahmt werden.“ Somit lehnt der Anarcho-Kapitalismus jeglichen Staat ab.

Einflussnahme
Das ist alles schön und gut, aber soweit reine Theorie. Tatsächlich stehen jedoch hinter den einzelnen Anschauungen Menschen, die ihre Weltbilder hinaus tragen und Einfluss nehmen wollen. Murray Rothbard unterstützte 1976 den rechtskonservativen Multimilliardär Charles Koch bei „der Gründung des Cato Instituts und beteiligte sich 1982 am Aufbau einer neuen Denkfabrik im Herzen des amerikanischen Südens: In Auburn (Alabama) entstand das Ludwig von Mises Institute for Austrian Economics, benannt nach Friedrich August von Hayeks Mentor, dessen Seminare Rothbard zwischen 1949 und 1959 in New York besucht hatte.“ (aus Staat ohne Macht)
Das Mises Institute vertrat Außenseiterpositionen und sprach sich für die Trennung der weissen Oberschicht von den Migranten aus, unterstützte die Notwendigkeit einer Rückkehr zum Goldstandard und leistete Widerstand gegen die Integration der verschiedenen Ethnien, die im Land der tausend Möglichkeiten stattfindet.
Sein Leiter war Rothbards Geistesverwandter und engster Vertrauter, Llewellyn „Lew“ Rockwell Jr., ein radikaler Libertärer als auch ein Befürworter des ethnischen Separatismus. Sowohl Rothbard als auch Rockwell spotteten über die Programme des „Kriegs-und-Wohlfahrtsstaats“. Militärische Interventionen im Ausland, Bürgerrechte und Armutsbekämpfung dienten in ihren Augen lediglich der Beschäftigung träger Bürokraten und den Interessen parasitärer Politiker. Rothbard: „Wir müssen der Sozialdemokratie ein Ende machen. Wir müssen der Great Society ein Ende machen. Wir müssen dem Wohlfahrtsstaat ein Ende machen. […] Wir müssen das 20. Jahrhundert rückgängig machen.“ (aus: Staat ohne Macht)
Eigentumsrechte
In den Augen der Libertären gehört eine Sache oder Ressource, demjenigen, der sie sich zuerst aneignet. D.h. die ausschließliche Kontrolle (Eigentum) wird von der Person erworben, die die Ressource zuerst angeeignet oder die sie durch freiwilligen (konfliktfreien) Austausch von ihrem Voreigentümer erworben hat. Eine Ressource muss aber genutzt werden, um als Eigentum zu gelten. Wer z.B. ein Stück Land sein Eigen nennt, es aber nicht nutzt, kann nicht als Eigentümer wahrgenommen werden. Wenn dann ein Dritter kommt und sich dieses Stück Land aneignet, gehört es rechtmässig ihm, denn es wurde ja vorher von niemandem genutzt. Rothbard rückt den Besitz von „unberührtem Land“, das durch harte Arbeit in wertvollen Boden verwandelt worden war, in den Mittelpunkt seines libertären Credos. Auf den Einwand, das von den Siedlern vorgefundene Land sei nie wirklich menschenleer gewesen, erwiderte Rothbard: „selbst wenn die indigene Bevölkerung Nordamerikas ein Recht auf das Land gehabt habe, das sie gemäß dem Naturrecht bebaute, habe sie dieses Recht eingebüßt, da ihre Mitglieder es nicht individuell innegehabt hätten“. Die indigene Bevölkerung, erklärte er, habe „unter einem kollektivistischen Regime“ gelebt. Es habe sich um Protokommunisten gehandelt, also sei ihr Anspruch auf das Land nichtig.
Mich verbüfft dieses Argument. Statt, dass er in gut libertärem Sinne feststellt, dass das Land leer schien und es niemand offensichtlich nutzte, weshalb es „genommen“ werden durfte, wird hier einfach Andersdenkenden ein Eigentumsrecht abgesprochen, weil sie andersdenkend sind.
Die Figuren im Hintergrund
Rothbard ist tot, aber er hat zahlreiche Jünger. Es sind immer einzelne Personen, die teils wissentlich und willentlich, teils aber auch unbeabsichtigt die Massen mobilisieren. Meistens sind es eher unbekannte Persönlichkeiten, die im Hinter- und Untergrund agieren. Sie werden dann bekannt, wenn sich eine Person des öffentlichen Interesses zu ihnen bekennt, wie z.B. JD Vance.
Die US-Zeitschrift Politico schreibt unter dem Titel The Seven Thinkers and Groups That Have Shaped JD Vance’s Unusual Worldview:
Wie Vance selbst zu Beginn dieses Jahres zugab, ist er in eine Menge seltsamer rechter Subkulturen verstrickt. Sein Übergang vom „Never-Trump“-Konservativen zum „MAGA“-Feuerwerker wurde durch seine Beziehungen zu einer Handvoll konservativer Nischenautoren und Denker beeinflusst. Darunter sind Leute, die auf einen post-liberalen Regimewechsel drängen, einige, die sich nach dem Kulturkonservatismus von Viktor Orbáns Ungarn sehnen, und ein ausgesprochener Monarchist. Diese Gruppe vertritt eine Vielzahl von manchmal konkurrierenden Standpunkten, aber sie sind durch die Überzeugung verbunden, dass das liberale Projekt des „Fortschritts“ – insbesondere in Form von wirtschaftlicher Liberalisierung, technologischem Fortschritt und der Nivellierung sozialer Hierarchien – in Wirklichkeit ein Fehler war.
Libertäre Vordenker
Peter Thiel
Der Artikel beleuchtet sieben Personen, deren Ideen JD Vance‘ Weltbild prägen. Einer der herausragendsten ist sicher der US-Unternehmer Peter Thiel. Vance arbeitete noch als Student in Thiels Unternehmen. Thiel hat auch monetär viel in Vance investiert. Die beiden sind eng befreundet. Thiel gründete zusammen mit Ellon Musk den Bezahldienst PayPal und bekennt sich zum Libertarismus. Thiel will nach eigenen Worten dem demokratischen Staat entkommen, der ihn zwingt, Steuern zu zahlen. „Ich glaube nicht mehr, dass Freiheit und Demokratie vereinbar sind“, schrieb er in einem selbsterklärten Forum für kontroverse Ideen. „Die große Aufgabe der Libertären besteht darin, einen Weg zu finden, um der Politik in all ihren Formen zu entkommen“. Thiel lehnt gleichzeitig die Politik des freien Marktes ab, da freier Wettbewerb Profite senke. Wettbewerb sei „eine Ideologie, […] die unsere Gesellschaft pervertiert und unser Denken zerstört“. (aus Staat ohne Macht)
Curtis Yarvin
Ein weiterer Vordenker von Vance ist Curtis Yarvin, ein US-amerikanischer Blogger und Softwareentwickler. Yarvin ist der Meinung, dass die amerikanische Demokratie zu einer korrupten Oligarchie verkommen ist, die von Eliten geführt wird, welche ihre Macht festigen wollen, anstatt dem öffentlichen Interesse zu dienen. Die Lösung, so Yarvin, besteht darin, dass die amerikanische Oligarchie einem monarchischen Führer Platz macht, der dann, dem CEO eines Start-ups gleich, die amerikanische politische Ordnung entschlacken kann, wie man ein Computerprogramm entschlackt. (aus The Seven Thinkers and Groups That Have Shaped JD Vance’s Unusual Worldview)
Yarvins Weltanschauung ist von Verschwörungsglauben durchzogen. Z.B. ist er überzeugt, dass der eigentliche Sitz der politischen Macht in den Vereinigten Staaten ein Zusammenschluss etablierter Universitäten und der Massenmedien ist, ein Gebilde, das er die Kathedrale nennt. Diese würden einen quasi religiösen Progressivismus und Idealismus vertreten und eine brahmanische Priesterkaste darstellen. Der Atheist Yarvin sieht die Wurzel des modernen Progressivismus im universalistischen Christentum. Ihm zufolge würde dieser auf Illusionen beruhen und die Ordnung in der Gesellschaft untergraben. Das schrieb er in einem seiner Blogposts.
Der US-Vizepräsident JD Vance räumt dem politischen Theoretiker Curtis Yarvin, der auch sein Freund sei, einen der größten Einflüsse auf seine Ansichten ein! (aus: Andrew Prokop: Curtis Yarvin wants American democracy toppled. He has some prominent Republican fans.)
Weitere
Als Donald Trump den Senator J. D. Vance zu seinem Vizepräsidentschaftskandidaten ernannte, zeigten sich rechtsextreme Influencer erfreut. Ihre Produktionen (Videos, Blogs) sind hasserfüllt und betonen die Unterlegenheit von Frauen, von Schwarzen, von Homosexuellen und von Jüdinnen und Juden.
Die amerikanische Zeitschrift The Atlantic schreibt im Artikel Silicon Valley Got Their Guy – J. D. Vance has solidified tech’s MAGA moment:
Vance ist tief in die Diskurse der Online-Rechten eingebettet. Auf X folgt er Nischen-Accounts, die aber in rechten Kreisen populär sind – etwa Bronze Age Pervert, Raw Egg Nationalist und Lomez, die entweder rassistische Ansichten geäußert haben oder – im Fall des Letzteren – Bücher von Rassisten über seinen eigenen Verlag veröffentlicht haben.
Auch wenn Menschen Accounts auf X aus verschiedenen Gründen folgen, ist viel aufschlussreicher, dass Vance Berichten zufolge mit Curtis Yarvin befreundet ist – einem anti-egalitären Monarchisten und Blogger, der als einflussreiche Figur der intellektuellen Online-Rechten gilt.
Vance gibt an, dass er nicht mit Saatenölen koche – ein Lieblingsthema der Online-Rechten, deren Influencer behaupten, diese Öle würden Fettleibigkeit verursachen. Er hat den ungarischen autoritären Regierungschef Viktor Orbán öffentlich gelobt. Und er hat eine verharmloste Version der „Great Replacement Theory“ verbreitet – einer verschwörerischen Erzählung, laut der es einen liberalen Plan gebe, weiße Menschen im Westen durch nicht-weiße Einwanderer zu ersetzen.
Auch in Europa?
Das scheint alles eine Angelegenheit der Amerikanern zu sein. Aber in Europa ist die Stimmung vergleichbar. Zum einen kann sich eine Weltanschauung heutzutage nicht mehr lokal halten. Die Sozialen Medien tragen sie sofort in alle Welt. In Europa gibt es auch Milliardäre, die die neuen Ideen dankbar annehmen. Und auch in Europa sind die Bürger des Staates überdrüssig. Die Pandemiemassnahmen haben ihren Überdruss noch genährt. Und gerade in Europa wählen die Menschen diejenigen Politiker, die sich für Sezession einsetzen. Hier in Europa gibt es sogar Parteien, deren Kernprogramm die Ausgrenzung ist. Mir sind halt einfach mögliche „Influencer“ der Neuen Rechten in Europa nicht bekannt. Aber es gibt sie sicher. Und sie werden sich an Curtis Yarvin und Consorten orientieren. Dafür sorgen die zahlreichen „Botschafter“ der amerikanischen Alt-Right, wie z.B. Steve Bannon, die sich vorgenommen haben, die rechtsextremistische Szene in Europa zu fördern.
Für mich erstaunlich ist die Vermischung von Anarchismus und Segregation. Die Demokratie ist ja nicht ineffizient wegen ethnischer Vielseitigkeit. Vielleicht behindert das Prekariat die Privatisierungsbestrebungen der Anarchisten. Ihre privaten Einrichtungen würden nicht mehr rentabel sein, wenn sie prekäre und benachteiligte Menschen mitnehmen müssten. Dann ist der Schritt zur Eugenik nicht mehr weit!
Die Diskussion über Rentabilität und Effizient demokratischer bzw. anarchistischer Gesellschaftsmodellen in den USA und in Europa muss man sich leisten können. In Asien und Südamerika ist so etwas nicht denkbar. Da sind andere Probleme im Vordergrund. Die Gesellschaften dort sind traditionsgemäss kollektivistisch, d.h. hochgradig anti-libertär. Russland kaut immer noch am Zusammenbruch der Sowjetunion. Etwas anderes als Autokratie hat es nie gekannt. China hat momentan grosse wirtschaftliche und demografische Probleme. Es scheint sich in einem Umbruch zu befinden. Und auch China war schon immer eine Autokratie, weit entfernt von einer Anarchie mit Privatisierung der Institutionen. Andererseits gibt es Überschneidungen! Arme und Bedürftige werden in einer kollektivistischen Gesellschaft von der Familie aufgefangen, unterstützt und gepflegt. Wenn das nicht hilft, leisten Nachbarn und Freunde weiter. Im Prinzip ist das die Privatisierung der sozialen Staatsaufgaben, wie es die Libertären fordern. JD Vance erklärte einmal das Prinzip der „abgestuften Liebe“ (ordo amoris): zuerst die Familie, dann die Nachbarn und dann die Gemeinde, etc. Sogar der Papst hat dagegen interveniert und ihm das christliche Prinzip der unbedingten Liebe erklären müssen. (aus Papst Franziskus und JD Vance streiten über Ordo Amoris). Aber für eine Organisation, die sich für arme und schwache einsetzt und beschränkte Ressourcen hat, mag eine abgestufte Hilfe das Richtige sein. Und so funktioniert eine kollektivistische Gesellschaft.
In den USA und Europa scheinen Anti-Etatistismus und Segregation im Trend zu sein, gegenüber sozialen und woken Ideen. Es gibt keinen Diskurs mehr. Die ungleichen Lager sind bezogen, man steht sich gegenüber.