Geopolitik

Generaldebatte im Bundestag: Von der Lust und Last des Kanzlerseins | ABC-Z

Was wiegt eigentlich so ein Land? Unsichtbar, aber unendlich schwer scheint das Amt als Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland bisweilen auf den Schultern von Friedrich Merz zu lasten. Am Mittwochvormittag steht Merz an dem Rednerpult, an dem er so oft gestanden hat in den letzten dreieinhalb Jahren. Es läuft die Generaldebatte zum Haushalt. Bis vor wenigen Monaten war es an dieser Stelle Merz’ Job als Oppositionsführer, die Regierung Scholz zur Weißglut zu treiben. Oft genug mit Erfolg. 

Und jetzt?  

Gerade hat Alice Weidel für die AfD über 20 Minuten lang gehetzt, über das Bürgergeld, das eigentlich ein Migrantengeld sei, die fortschreitende Islamisierung, sexuelle Belästigung durch Einwanderer. “Ihre Regierung fliegt weiter munter Afghanen per Flugzeug ein”, ruft sie dem Kanzler zu. Merz hat das rechtsnationale Theater scheinbar gelangweilt von der Regierungsbank aus ertragen, ohne Weidel dabei eines Blickes zu würdigen. In seiner Replik am Pult bricht es aus ihm heraus: “Halbwahrheiten und persönliche Herabsetzungen muss auch in einer Demokratie niemand unwidersprochen hinnehmen”, ruft er. 

Das war dann aber nach wenigen Minuten auch schon der emotionale Höhepunkt von Merz’ Rede. Es folgt: ein klassischer Kanzlerauftritt. Statt dem Springteufelchen der Ampel-Regierungsjahre tritt an diesem Mittwoch der Staatsmann auf. Der Schnodder-Merz, der gern mal aus der Hüfte schießt, hat Pause. Mit allen Nebenfolgen.

Punkt für Punkt arbeitet sich Merz durch eine kleinteilige innenpolitische Agenda. Er lobt, seine Regierung werde die Wirtschaft “spürbar entlasten”. Merz sagt Sätze wie: “Wir machen Deutschland fit für die Zukunft”, und “Wir werden Investieren in Deutschland einfacher, schneller und unbürokratischer machen”. Es folgen Ausführungen zu Baurecht, Verfahrensrecht und zur Tierhalterkennzeichnungspflicht.  

An diesem Mittwoch ist der Kanzler vor allem Regierungssprecher in eigener Sache. Eine Rolle, die er nur einmal verlässt: Er bedankt sich direkt bei der SPD, dass der Koalitionspartner seine Migrationspolitik mittrage. Er wisse, das sei nicht einfach. Eine schärfere Einwanderungspolitik sei aber wichtig für den “gesellschaftlichen Frieden”. Er verspricht an diesem Tag gleich mehrfach: Die Grenzkontrollen und Zurückweisungen seien aber nur vorübergehend und zeitlich begrenzt.

Auch die übrigen Politikerinnen und Politiker tun sich offenbar noch schwer damit, Merz ein passendes Framing umzuhängen. Er ist noch keine 70 Tage als Bundeskanzler im Amt. Die Debatte, wie er zu bewerten und charakterisieren ist, läuft. Gesucht werden offenbar noch passende Spitznamen und Catch-Phrasen, die sich in breiterem Publikum durchsetzen. Alice Weidel nennt ihn einen “Lügenkanzler” und “Papierkanzler”, dessen “gebrochene Wahlversprechen ganze Kataloge füllen”. Katharina Dröge von den Grünen bezeichnet ihn als “Kanzler, der nicht Politik für alle Menschen macht”.  Auf die Debatte zur Regenbogenfahne auf dem Bundestag anspielend sagt Dröge, Merz sei hier “nicht der oberste Pausenclown”, der in Talkshows die Gefühle queerer Menschen verletze.

Jens Spahns Coronamoment

Die Zuschreibungen: noch etwas unbeholfen. Die allermeisten sind hier dabei, ihre neue Rolle zu finden. Das ist den frisch gebackenen Regierungsmitgliedern anzumerken. Die Ex-Minister lauschen dagegen auf den Hinterbänken der Debatte. Während Karl Lauterbach viel am Handy liest, hört Robert Habeck still zu und klatscht einsam vor sich hin, wenn es um Transformation und Klimaschutz geht.

Seine Grünen wirken an diesem Tag wie die einzig ernsthafte Oppositionspartei. Sprechen Politiker aus den Regierungsparteien, werden vor allem die AfD und ein bisschen die Linken angegriffen, die Grünen aber sollen überzeugt werden. So zumindest ist der Eindruck. Die kleine Fraktion, in der Mitte des Plenums, steht im Zentrum vieler Debatten an diesem Tag.

So wendet sich Jens Spahn in einem emotionalen Moment an den Grünen-Gesundheitspolitiker Janosch Dahmen. Es geht um die Maskenaffäre, seine derzeit viel diskutierte Rolle als Gesundheitsminister während der Coronazeit. Spahn erinnert an die vielen Telefonate, die er damals mit Dahmen geführt habe, und bedankt sich für die gute konstruktive Zusammenarbeit zu jener Zeit.

Spahn ist in dieser Debatte skandalumwehter Ex-Minister, scharfzüngiger Ex-Oppositioneller und amtierender oberster Mehrheitsbeschaffer für Friedrich Merz, alles in Personalunion. Die Grünen gehen hart mit ihm ins Gericht, fühlen sich aber auch aufgrund der vielen direkten Ansprachen sichtlich geschmeichelt. Zu manchen oppositionellen Forderungen der Grünen (“Geben Sie den Weg frei für einen Untersuchungsausschuss”) klatscht sogar die AfD. Spahn wiederum nimmt es sportlich: Er habe die Grünen in der Ampel auch nicht geschont und erwarte das deshalb auch umgekehrt nicht.

Die zweite Premiere an einem Tag

Ja, selbst die AfD versucht sich in einer neuen Rolle. Zwar ist und bleibt sie Oppositionspartei. Und inhaltlich bewegt sie sich immer noch irgendwo zwischen Hetze und Polemik. Aber für ihre Verhältnisse wirkt sie durchaus um einen ruhigen Ton bemüht: Die Parteistrategie, künftig gemäßigter aufzutreten, ist nicht nur der Rede von Alice Weidel deutlich anzumerken. Der Verzicht auf lautstark vorgetragenen Furor hat offenbar seinen Preis: Weidels Sätze zur Migration stoßen diesmal auf weit weniger Widerhall als sonst und plätschern zumeist unkommentiert vor sich hin.

Am Nachmittag steht für Merz dann eine zweite Premiere an: Der Kanzler stellt sich in der Regierungsbefragung den Fragen der Abgeordneten. Das hat Tradition vor den Sommerferien – dass auch die Generaldebatte nun ebenfalls auf denselben Tag fiel, war keine Absicht, sondern dem Zeitplan für den Haushalt geschuldet. Nun: Die direkte Konfrontation mit der Opposition – die AfD klagt, Merz’ Migrationspolitik sei zu lasch, die Grünen kritisieren, Merz’ Regierung lasse die Klimaziele schleifen, die Linke verlangt von Merz ein Bekenntnis gegen Israels Raketenangriffe auf den Iran und gegen Maskenmann Jens Spahn –, all das scheint Merz beinahe Spaß zu machen.

Er pariert, mal lässig, die Hand in der Hosentasche, mal mit Verve. Ansage an die AfD: “Was wir an den Außengrenzen machen, hat Erfolg.” Er keilt gegen die Linke: Maskenermittlerin Margaretha Sudhof verletze “fundamentale Rechte in einem rechtsstaatlichen Verfahren”, habe nicht mal mit den Beschuldigten selbst gesprochen. Und verspricht den Grünen: Die Klimaziele stehen – aber keine Deindustrialisierung mit ihm. Auch Null-Emissionen aus Deutschland würden keine einzige Naturkatastrophe verhindern.

Der Bundestag verabschiedet sich langsam in Richtung sitzungsfreie Zeit. Für Merz geht es am Sonntag schon weiter mit dem ersten Sommerinterview als Regierungschef in der ARD. Eine traditionelle Sommerpressekonferenz vor den Hauptstadtmedien liegt auch noch vor ihm. Mal sehen, welchem Kanzler Merz dann den Vorzug gibt. 

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