Dokumentarfilm „Pelym“ über russische Straflager wiederaufgeführt | ABC-Z

Die Wurzeln seines Werdegangs als Dieb liegen in der Kindheit. 1950 kam er gegen Ende von Stalins Schreckensherrschaft zur Welt, von Beginn an war der Häftling ein Systemsprenger. Einer, der sich nicht eingliedern ließ in eine Ordnung, die keine Abweichler duldete. Ohne Namen bleibt der Mann, der mit 14 Jahren zum ersten Mal ins „Lager“ kam. Er klaute aus Hunger. Seitdem ist er ein Lagermensch.
„Die Freiheit hat mir gar nicht gefallen“, sagt der Mann über die wenige Zeit, die er außerhalb der sowjetischen Straflager verbracht hat. Immer wieder dauerte es nur kurze Zeit, bis er abermals gewalttätig wurde. Im Film ist er Mitte vierzig. Wenn er wieder rauskommen sollte, werde er einen „überflüssigen Menschen erschießen“, und dann wieder ins Lager kommen. Draußen, das sagt er offen, sei er nicht mehr lebensfähig.
Der 1998 bei der Berlinale uraufgeführte Dokumentarfilm „Pelym“ des Wiesbadener Filmemachers Andrzej Klamt und seines Kollegen Ulrich Rydzewski liefert einen ungeschönten Einblick in die Welt russischer Straflager Ende der Neunzigerjahre. Am 8. April ist er, aufwendig restauriert und digitalisiert, in der Wiesbadener Caligari Filmbühne zu sehen.
Wer freikommt wird wieder kriminell
Der Titel des Films steht stellvertretend für die Region am nördlichen Ural, die seit 400 Jahren Ort russischer Verbannung und Zwangsarbeit ist. Mit dem Begriff „Katorga“ aus der Zarenzeit hat diese Art der Bestrafung eine lange Tradition in Russland und ist in dessen Literatur ein zentrales Thema, sagt Klamt, von Dostojewski bis zu Alexander Solschenizyn und Warlam Schalamow.
Dabei befindet sich Russland in Klamts Film schon in der Zeit des Umbruchs nach Michail Gorbatschow und seinen Zielen von Offenheit und Reform. Alte Sowjetmethoden wirken allerdings nach. Gut ein Drittel der Inhaftierten ist wegen Homosexualität eingesperrt, obwohl sie in Russland 1993 entkriminalisiert worden ist. Unter Putin ist sie heute wieder geächtet. Als „Parias“ stehen diese Häftlinge am unteren Ende der Lagerhierarchie. Die übrigen Häftlinge sitzen ein wegen Diebstahls oder Gewaltverbrechen.
Sie leben in einem recht offenen Gefängnis, das wegen seiner Abgelegenheit im rauen Sibirien Fluchtversuche aussichtslos macht, und verrichten für das Regime Zwangsarbeit in den Wäldern, holzen Bäume ab für die Industrie.
Die Schönheit der vielfach unberührten Natur steht im krassen Gegensatz zu den von ihrem Schicksal gezeichneten, abgemagerten Häftlingen, die mit dem Leben im Lager verwachsen sind. Die Freiheit kennen viele nicht mehr. „Wo sollen wir auch hin?“, fragt einer. Ohne Familie, Haus oder Hof. Wer frei komme, werde wieder kriminell. Ein Kreislauf, den viele Häftlinge betonen. Für einen Funktionär sind die Häftlinge aus diesem Grund vor allem eines, „gesellschaftlicher Abfall“.
Für Klamt, damals junger Filmemacher Anfang 30, waren die Wochen, die er im Lager verbrachte, sehr eindrücklich. „Du musstest die Augen immer hinten haben und das Drumherum im Blick behalten.“ Angst aber habe er nicht gehabt, sagt er.
Durch die Bekanntschaft Klamts mit dem russischen Fotografen Sergej Vasiljev, der Kontakt zur russischen Regierung und Ministerpräsident Wiktor Tschernomyrdin hatte, hatten Klamt und Rydzewski einen „Blankoschek“ für ihren Film bekommen. Sie hatten angegeben, einen Film über Lagerfolklore, die in Russland berühmte Häftlingsmusik sowie die Tätowierungen, machen zu wollen. „Dann standen uns alle Türen offen“, erinnert sich Klamt.

„Pelym“ ist durch das Förderprogramm Filmerbe der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, der Länder und der Filmförderungsanstalt mit knapp 75.000 Euro unterstützt worden, was die Restaurierung und Digitalisierung ermöglichte. „Dafür wurde das Negativ des Films, der ja komplett auf Super 16 gedreht ist, abgescannt“, sagt der Regisseur. Mit dem ebenfalls zu restaurierenden Ton und „den ganzen Schnitten“ sei das ein „aufwendiges Verfahren“ gewesen.
Klamt arbeitet schon am nächsten Projekt
Für Klamt, der viele Filme über Russland, die Sowjetunion, Polen und die Ukraine gemacht hat, bekommt „Pelym“ wegen der Herrschaft Putins und dem gewaltsamen Tod vieler Oppositioneller wie etwa Alexej Nawalny im Strafgefangenenlager in Charp, eine neue Aktualität. Mit Putin sei ein neuer eiserner Vorhang entstanden, sagt Klamt, mit Zuständen in den Gefangenenlagern, Klamt nennt sie nach wie vor „Gulags“, wie zur Zeit der Sowjetunion.
Klamt wuchs in Oberschlesien auf und kam als Jugendlicher nach Westdeutschland. Sein Interesse an Russland, eine „Hassliebe“ wie er sagt, ließ ihn in Frankfurt neben Filmwissenschaft auch Slawistik studieren. Seitdem zieht sich das Leben in Osteuropa als Thema und Motiv durch seine filmische Arbeit. Als Student und junger Filmemacher hatte er in den Neunzigerjahren die kurze Zeit der Freiheit genutzt. Neben „Pelym“ etwa für einen Film über einen Mitarbeiter des stalinistischen Sicherheitsapparats, der Folterszenen zeichnete („Baldajew – Zeichner des Gulag“).
Aktuell arbeitet er an seinem nächsten Projekt. „Sieben Kreise der Hölle“ werde ein Film über „das Wesen des Schreckens des Krieges“, sagt Klamt. Es geht um sieben Soldaten, fünf Männer und zwei Frauen, und ihr Leben an der Front im Ukrainekrieg. Damit verhandele er ein klassisches Motiv der Moderne, sagt Klamt, die „Zerstörung des Menschen im Krieg“. Im Zentrum stünden Fragen nach dem Einfluss des Krieges auf das Individuum, auf Familien, auf Gesellschaftlichkeit insgesamt. „Ich will eine Innenansicht des Krieges schaffen“, sagt er.
Der Film soll im nächsten Frühjahr erscheinen und wird von der Hessen Film und Medien GmbH als erstes Projekt nach dem Setzkasten-System mit 90.000 Euro gefördert. Das System wurde 2022 in die hessische Förderstruktur integriert. Es biete Filmschaffenden „Raum zum Experimentieren, Ausprobieren und Reflektieren“ während der frühen Entwicklungsphase und schaffe Planungssicherheit, wie ein Sprecher auf Anfrage sagt. Gerade für Dokumentarfilme sei die Förderung sinnvoll, weil hier die Stoffentwicklung oft mit Produktionsvorbereitung einhergehe.
Seine Arbeit erleichtere das ungemein, sagt Klamt. Weil aber mittlerweile selbst die Öffentlich-Rechtlichen, für die er viele Filme gemacht habe, vermehrt seriell produzierten und Aufträge an Firmen gäben, die „direkt ganze Reihen machen oder gleich mehrere Filme“, werde es für kleine Produktionsfirmen wie seine immer schwieriger. „Wir produzieren Autorenfilme mit eigener Handschrift“, sagt er. „Für uns, die eigene Themen finden, die eine eigene Handschrift haben, die das Besondere suchen, ist es mehr und mehr ein mühsames Dasein.“
„Pelym“ entstand in einer anderen Zeit. Und hat dennoch etwas Zeitloses. Mit einem ästhetischen Zugang, der nachwirkt und Menschen, die zwar Verbrecher, aber doch Opfer eines Systems sind, das ihnen kaum eine Chance gab.
Pelym „goEast“ präsentiert, Caligari Filmbühne, Marktplatz 9, Wiesbaden, 8. April, 20 Uhr, Eintritt 9 Euro