Bilanz Bochumer Plattenladenbetreiber: „Haste extra gemacht, oder?“ | ABC-Z

taz: Herr Boehmelt, warum öffnet Ihr Laden am Wochenende eigentlich immer genau um 11.15 Uhr?
Klaus-Peter „KP“ Boehmelt: Wir schaffen es nicht eher. 40 Jahre fünf Tage die Woche, da lässt man es am sechsten etwas ruhiger angehen. Vor ein paar Wochen kam samstags vor dem Heimspiel des VFL Bochum ein Stammkunde mittags vorbei, VfL-Fan, lebt am Niederrhein, ist eigentlich Berliner, fährt Lkw und Taxi und sieht nicht nur aus wie Kurt Krömer, sondern spricht auch so. Er marschiert also in den Laden und hat zehn Freunde in Blau-Weiß dabei. Alle singen „Ohne Platten wär hier gar nichts los“. Das war surreal – und großartig.
taz: Was haben Sie denen empfohlen?
KP: Getdown-Services, „Crisp“. Ein nettes, überdrehtes Indie-Pop-Feieralbum. Big Beat, Gitarre, Elektro und Rap, sehr tanzbar. Das Duo besteht aus zwei Briten, unverkrampfte Anti-Stars. Dann Kratzen aus Deutschland. Zwei Frauen, ein Mann. Shoegaze, unaufgeregt. Klare, schlichte Cover. Wir hatten neulich mit der Band Mailkontakt. Sie haben keinen Vertrieb und haben uns ihr neues Album, „III“, direkt geschickt.
Rebecca Boehmelt: Und Fcukers, zwei junge Amis. Sie singt, er spielt Bass. Bisher gibt es nur die EP „Baggy$$“ auf Ninja Tune …
Discover Records:
Klaus-Peter „KP“ Boehmelt, im Sauerland geboren, studierte Soziale Arbeit.
Rebecca Boehmelt,in Hamburg geboren, wurde Kauffrau. Seit 1999 führen beide gemeinsam Discover Records.
KP hat den Plattenladen 1985 auf der Bleichstraße 8 a in Bochum eröffnet. 2002 ging es rüber auf die andere Straßenseite, Untere Marktstraße 1, und in ein kleineres Ladenlokal. Seitdem alles stabil.
Discover Mixtape 1998:
open.spotify.com/playlist/14OW13i724Q80PFFDM7FsC?si=1bf394e8d1484f82
Record Store Day ist am Samstag 12. April 2025. DISCover eröffnet wie immer um 11.15 Uhr
KP: … sehr dubby Techno. Mögen auch viele, die keine Rave-Granaten sind.
taz: Ist das immer noch Ihr Kerngeschäft? Gute Empfehlungen, persönliche Beratung?
KP: Daran hat sich in vier Jahrzehnten nichts geändert.
Rebecca: Es kommen Leute rein und du versuchst einzuschätzen, was ist das für ein Typ Mensch? Dann spielst du was an. Es dauert fünf Minuten und die Leute fragen, was ist das? Meistens gehen sie mit der Platte raus und sagen: Das haste extra gemacht, oder? Ein wunderbares Gefühl, jedes Mal.
KP: Wobei ich öfter abwägen muss, Platten zu spielen. Obwohl ich weiß: Sie passen. Die Playlist folgt jeweils ökonomischen Gründen. Dabei ist der Plattenladen die Verlängerung des DJ-Daseins. Ich möchte den Leuten Musik vorspielen. Es geht immer um den Moment, wenn ein Song das erste Mal gehört wird.
taz: Wie viele, die Sie damit erwischen, werden Stammkunden?
KP: Einige schon – und bringen uns dann mit Ihren Bestellungen zur Verzweiflung. Die Recherchemöglichkeiten sind besser als früher, aber es kostet viel Zeit und Mühe. Da ziehe ich alle Register, manchmal im Graubereich. Nur damit ich eine Platte besorgen kann, die in Deutschland über die Vertriebskanäle nicht zu kriegen ist. Etwa ein völlig abgefahrenes, seltenes Metalalbum für jemand, der extra aus Luxemburg anreist. Viele Stammkunden sind aber auch bereit, deswegen mehr zu bezahlen.
taz: Wer kommt eigentlich zu euch und will Vinyl?
KP: Die meisten sind schon eher im links-grünen Kosmos unterwegs. Was mich vor allem freut: Es kommen viele junge Mittzwanziger:innen. Die Mixtur, die gekauft wird, ist aber eine komplett andere als die, die wir in dem Alter gelebt haben.
taz: Weshalb?
KP: Punkrock bedeutete früher etwa, dass man auf gar keinen Fall Progrock hören durfte. Heute unvorstellbar. Es geht oft, ganz wertfrei gesagt, um Spaß.
taz: Das Politische ist weniger wichtig?
KP: Neulich war eine junge Frau zum ersten Mal da, hat HipHop-Alben rausgesucht und gekauft. Wir haben uns lange unterhalten. Dann fragt sie plötzlich nach Kanye West. Den habe ich schon lange nicht mehr im Sortiment, sage ich. Sie darauf: Ich habe aufgehört, auf politische Statements zu achten.
Rebecca: Wir haben später darüber diskutiert, wo wir eigentlich aktuell die Grenze ziehen, jenseits der offensichtlichen No-Gos wie etwa Rassismus, Gewalt, Antisemitismus, Frauenfeindlichkeit.
KP: Musik von den Onkelz habe ich noch nie verkauft!
taz: Wie haben Sie sich eigentlich kennengelernt?
Rebecca: Am Telefon. Ich habe 1999 in Hamburg beim Vertrieb Connected! gearbeitet und sollte mich um Klaus kümmern. Unabhängige Plattenläden waren damals wichtig – für die Umsätze der Plattenfirmen. Ich mochte seine Art, seine Stimme. Er hat mir dann eine Konzertempfehlung geschickt. Dann ging es per Mail hin und her. Wenig später war er karnevalsflüchtig, kam spontan nach Hamburg. Ein Blinddate – und Liebe auf den ersten Blick. Dann bin ich ins Ruhrgebiet gezogen und habe später bei Discover die Buchhaltung übernommen.
taz: Wie hat sich das Musikgeschäft in den 40 Jahren verändert?
KP: Bis Ende der Neunziger ging’s nur nach oben, Musik-Fernsehen explodierte, hatte traumhafte Reichweiten. Als Händler wurde ich oft zu Releasepartys eingeladen: Gästeliste, Backstage. Goldgräberstimmung überall. Zur Fußball-EM nach England 1996? Kein Problem! Ich bekam Tickets, alles wurde geregelt. Vom dritten Prodigy-Album „The Fat of the Land“ hab ich 1997 direkt 100 Stück bestellt, das war damals schon eine wahnsinnige Stückzahl für einen einzelnen Laden. Aber die gingen weg. Rasend schnell.
taz: Wann war der Zenit überschritten?
KP: Ich war Ende der 1990er auf der Popkomm in Köln und hab trotz der Euphorie gedacht, das alles hier geht bald vorbei. Wir haben das Gegenteil gemacht, sind mit dem Laden umgezogen, auf die Straßenseite gegenüber. Bewusst verkleinern. Die Leute haben mich erst für verrückt erklärt. Den Achtzigern gehörte Vinyl, die Neunziger waren das Jahrzehnt der CD, Anfang der Nuller brachen dann die Umsätze ein. Dann kam bald das Digitale, die Plattformen, die dominieren nun alles – und Vinyl hat wieder eine robuste Nische gefunden. Letzteres hält uns am Leben. Und kleine Labels wie Kompakt aus Köln, die haben uns Plattenläden schon früher geliebt. Ein Glücksfall, bis heute.
taz: Welche Ära war musikalisch die kreativste aus Ihrer Perspektive?
Rebecca: Als elektronischer Dancefloor Anfang der 90er mächtig aus dem Untergrund drängte …
KP: … stimmt, das Jahrzehnt war am intensivsten. Viele neue Genres entstanden: TripHop, Big Beat und Techno wurden salonfähig. Die Experimentierfreude schien endlos. Man konnte sich überhaupt nicht satthören. Wir waren ununterbrochen auf Konzerten.
taz: Was wurde eigentlich aus den Kassetten? Den Mixtapes?
KP: Es gibt ein legendäres Mixtape von uns, von 1998 – eine Seite Elektronik, eine eher Rock. Es kursiert offenbar immer noch. Gibt’s jetzt auch als Retro-Playlist bei Spotify.
taz: Warum nicht bei Tidal?
KP: Den Streamingdienst Tidal hab ich auch ausprobiert, aber bei Spotify hab ich mich mittlerweile eingegroovt. Der Algorithmus ist leider verdammt gut. Die Tipps, mit denen ich im Kopf spiele, wenn ein Kunde reinkommt, werden mir beim Suchen bereits öfter vorgeschlagen. Die Trefferquote mag solide sein, aber meine ist immer noch besser. Und solange das so bleibt, brenne ich für den Job.