Protest junger Türken: “Der Widerstand geht weiter” | ABC-Z

Seit Mitte März demonstrieren viele Türken unentwegt gegen die Inhaftierung des Istanbuler Oberbürgermeisters İmamoğlu. Vor allem junge Menschen sind aktiv, weil sie ihre Zukunft gefährdet sehen. Dafür riskieren sie viel.
“Sie können jederzeit wieder kommen”, sagt die junge Studentin Gizem Sert und schaut aus ihrem Fenster im Istanbuler Stadtteil Beşiktaş. Sie, das sind die Polizisten, und wenn sie wiederkommen, sollte Sert unbedingt zu Hause sein.
Sert hat von Anfang an an den Studentenprotesten in Istanbul gegen die Verhaftung des Oberbürgermeisters Ekrem İmamoğlu teilgenommen, hat mit dem Megaphon ihre Kommilitonen von der Universität koordiniert, auch ihre Wut gegen die Regierung herausgeschrien.
Dann, an einem frühen Morgen, stürmten Polizeibeamte ihre Wohnung. Sert wurde kurz festgenommen. Danach verhängten die Behörden ein Ausgehverbot. Seitdem darf die Soziologiestudentin, die aus Bursa stammt, ihre Wohnung nicht verlassen.
Dann eben von zu Hause aus agieren
Mehrfach habe die Polizei das in den letzten Tagen unangekündigt überprüft, berichtet sie. Doch Sert will sich nicht unterkriegen lassen. Von zu Hause aus organisiert sie die Proteste weiter, ist mit ihren Mitstudierenden im ständigen Kontakt.
Sert sagt, das sei ein Drahtseilakt. Denn viele Studenten seien in den Tagen der Proteste festgenommen worden. “Durch solche Razzien wird ein Klima der Angst erzeugt, um uns zu unterdrücken”, sagt sie in ihrer kleinen Wohnung.
Doch nun sei es an der Zeit, dagegen zu protestieren. “Erdoğan formt das Gesetz nach Belieben. Deshalb kann er Menschen, die seiner Macht gefährlich werden, problemlos festnehmen oder verhaften lassen.”
Perspektivlosigkeit, nicht nur bei Studenten
Viele junge Menschen in der Türkei sind empört, und das liegt nicht nur an der Inhaftierung von İmamoğlu. Die Wirtschaftslage ist schlecht, die Jugendarbeitslosigkeit groß – sie liegt gerade um die 17 Prozent. Oft werden bei der Jobsuche Regierungsanhänger bevorzugt. Dazu kommt die hohe Inflation.
Eine bezahlbare Wohnung in den Großstädten zu finden ist für viele junge Türken fast unmöglich. Viele wollen deshalb ins Ausland gehen. “Sieben von zehn Jugendlichen wollen die Türkei verlassen”, sagt Seren Korkmaz vom Istanbuler IstanPol Institut gegenüber der ARD.
Auch wenn die Jugendlichen nicht als homogene Gruppe gesehen werden könnten, hätten sich die Probleme in letzter Zeit vereinheitlicht, sagt Korkmaz, die auch für die deutsche gemeinnützige Mercator-Stiftung forscht: “Die Forderungen der Jugendlichen sind eine Türkei, in der alle Einschränkungen der Freiheiten aufgehoben sind. Eine Türkei, in der sie in Sicherheit und Wohlstand leben können.”
“Ich will, dass das jetzt endet”
“Das ist jetzt die letzte Chance, noch etwas zu ändern”, sagt ein junger Student auf der Mittwoch–Demonstration im Istanbuler Stadtteil Şişli. Er trägt eine Maske, will nicht erkannt werden. Denn es hat sich herumgesprochen, dass die Polizei die Demonstrationen mit Kameras überwacht und dann Studenten gezielt festnimmt.
Neben ihm steht eine junge Frau, auch mit Maske. 25 Jahre sei sie, habe bisher nur eine Regierung erlebt. “Ich bin müde, will, dass dies jetzt endet. Ich will anders denken können. Ich will das Recht haben, als Mensch zu leben”, sagt sie mit großer Entschlossenheit.
Dann gehen beide in Richtung Rathausplatz. Dort haben sich bereits Tausende versammelt. Es ist laut, fast ein Happening. Nicht nur Studenten sind gekommen, sondern auch viele Menschen aus der Mitte der Gesellschaft. Einige haben ihre Kinder und Großeltern mitgebracht.
Dann spricht der Vorsitzende der größten Oppositionspartei, Özgür Özel. Mittlerweile ist er heiser, er ist im Dauereinsatz, ist mittlerweile das Gesicht der Massenproteste geworden. Özel fordert die Freilassung İmamoğlus und Neuwahlen.
“Wir werden unsere Hoffnung nie aufgeben”
Die vielen Studenten applaudieren. Viele aber machen deutlich, dass sie nicht parteipolitisch denken. Ihr Hauptantrieb sei, die Regierung unter Druck zu setzen. Dafür werden auch Boykotte regierungsnaher Unternehmen befürwortet.
Ein Student hat mittlerweile seine Maske abgenommen und sagt, dass hier alle weitermachen werden. “Wir hoffen, dass alles gut wird – für das ganze Land. Wir werden unsere Hoffnung nie aufgeben. Ich sage: Der Widerstand geht weiter.”
Und der Widerstand geht weiter. Jeden Mittwoch und Samstag soll nun demonstriert werden. Parallel werden Unterschriften für die Freilassung İmamoğlus gesammelt, auch in Şişli. Bis 19. Mai wolle man mindestens zehn Millionen Unterschriften haben, sagt ein Mann am Unterschriftenstand.
Spielt Erdoğan auf Zeit?
Die Analystin Korkmaz glaubt, dass die Erdoğan-Regierung die Proteste aussitzen will, auf Zeit spielt. “Die Erwartung ist, dass das Volk das vergessen wird”, meint sie. Auch die internationale Gemengelage sei gerade für die Türkei günstig: Man brauche das Land bei der Migration, im Ukraine-Russland-Konflikt, als NATO-Partner.
Ob diese Strategie aber aufgehen wird, bezweifelt die Expertin. “Ich denke, dass die Gesellschaft in der Türkei solche Ungerechtigkeiten nicht vergisst”, sagt sie und meint damit nicht nur die Festnahme İmamoğlus, sondern auch die landesweite Absetzung und Festnahme vieler Bürgermeister, Journalisten und Oppositionspolitiker.
Bereit, Entbehrungen in Kauf zu nehmen
Gizem Sert versucht, von zu Hause aus ihr Studium fortzusetzen. Die Universität hat dafür Sonderregelungen erlassen. Prüfungen werden vereinfacht, sind auch online möglich. Das sei eine große Erleichterung, sagt Sert.
Doch gedanklich ist sie immer bei den Protesten. In Istanbul finden diese weiter jeden Mittwoch statt, in den Universitäten noch öfter. Sert hofft, dass diese Bewegung nicht nur an den Universitäten, sondern auch in der gesamten Gesellschaft weiterwächst. Man müsse weiterkämpfen, auch wenn es hart wird. Die Gesellschaft müsse solidarisch sein.