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Francesco Piemontesi über Alfred Brendel | ABC-Z

Vor drei Jahren, kurz nach dem Ausbruch des Kriegs in der Ukraine, begrüßte Alfred Brendel mich an seiner Haustür mit den Worten: „Francesco, zum Glück bin ich schon so alt. Ich will das gar nicht mehr lange erleben.“ Brendel, geboren 1931, hat die Auswirkungen von Krieg und Faschismus in seiner Jugend selbst erfahren müssen. Ein Mann der Alten Welt war er indessen nicht. Weltbekannt sind zwar seine Interpretationen der Wiener Klassik. Aber auch Schönbergs Klavierkonzert hat er nicht weniger als dreimal aufgenommen. Und immer wieder drängte er: „Sie sollten mehr Ligeti spielen! Wenn ich jünger wäre, würde ich das auch machen“.

Fast zwanzig Jahre davor hatte der Pianist Markus Becker, selbst Brendels Schüler, eine Aufnahme von mir an Alfred Brendel geschickt. Ohne mein Wissen übrigens. Ich war damals noch Student. Kurz darauf erhielt ich einen handgeschriebenen Brief – eine Einladung nach London. Ich erinnere mich genau an diesen Moment: Von einem meiner größten Idole unerwartet kontaktiert zu werden, war überwältigend. Natürlich sagte ich sofort zu.

Respektvoll, aber kompromisslos

Einige Wochen später begegnete ich in Hampstead dann zu meiner Überraschung keinem ehrwürdigen Guru sondern einem zugänglichen, nahbaren und sehr humorvollen Humanisten. Wir wollten an Beethovens viertem Klavierkonzert arbeiten. Für die ersten vier Takte benötigten wir mehr als zwei Stunden. Und für den Rest des Konzertes die gesamten darauffolgenden drei Tage. Brendel begegnete mir offen, freundlich, respektvoll, aber künstlerisch kompromisslos. Er unterrichtete nicht nur am Klavier. Wir diskutierten über Kunst, Gesellschaft, er nahm mich mit zu Ausstellungen. Besonders wichtig: Abends saßen wir zusammen und hörten Aufnahmen. Vor allem von Edwin Fischer, Wilhelm Kempff, Alfred Cortot. Aber auch vom Busch-Quartett und Wilhelm Furtwängler. Es ging ihm dabei aber nicht so sehr um eine bestimmte Traditionslinie. Vielmehr wollte er mich aufmerksam machen auf pianistische und musikalische Qualitäten, um deren Verlust er fürchtete.

Während eines Besuch bei ihm und seiner Lebensgefährtin Maria Majno in Mailand haben wir äußerst intensiv an Beethovens Sonate in A-Dur op. 101 gearbeitet. Daran anschließend hörten wir Brendels eigene Aufnahme. Übrigens eine überirdisch gute Aufnahme, eine der besten von Brendel überhaupt. In der Mitte des Scherzos stellte er allerdings die Anlage ab und schwieg für einige Minuten. „Wissen Sie“, sagte er zu mir und seufzte, „Ich müsste eigentlich nochmal ganz von vorne anfangen“. Darin, dass einer der größten, gefeiertsten Musiker des Planeten mit solcher Aufrichtigkeit und fast selbstloser Konsequenz über seine eigene Aufnahme spricht, bleibt er für mich eines der größten Vorbilder.

Brendel war ein leidenschaftlicher Musiker mit einer vulkanischen Intensität. Die Genauigkeit seiner Arbeit, seine Liebe zum Detail, hatten nichts Manieristisches an sich. Stattdessen kannte er sein musikalisches Naturell sehr genau und suchte, dieses zu kultivieren, zu zähmen. Das Resultat: ein Klavierspiel, das einerseits fein und genauestens strukturiert, gleichzeitig aber lebendig und spontan war. Essenziell dafür war die Arbeit am Klang. Mit seinen großen, etwas grob wirkenden Händen erzeugte Brendel einen so überirdisch schönen, weichen, abgerundeten, aber ebenso konturierten und tragfähigen Klavierklang wie niemand sonst. Auf den Aufnahmen lässt sich das, ehrlich gesagt, nur erahnen.

Alfred Brendel hat nicht nur Klavier gespielt. Er hat Musik gelebt, sich selbst und sein Leben in den Dienst der Musik gestellt. Nun ist er verstummt. Sein Echo wird bleiben.

Der Pianist Francesco Piemontesi drehte mit Alfred Brendel und dem Regisseur Jan Schmidt-Garre den Film „Die Alchemie des Klaviers“ (2024).

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