Tadej Pogačar: Der Unbarmherzige | ZEIT ONLINE | ABC-Z

Im letzten Anstieg der 18. Etappe, auf den Straßen zum Alpen-Skiort Isola 2000, zerstörte Tadej Pogačar jeden Zweifel. Knapp zehn Kilometer vor dem Ziel griff er an, tänzelte seinen größten Konkurrenten Jonas Vingegaard und Remco Evenepoel davon, die eigentlich beide längst keine Konkurrenz mehr waren. Drei Minuten Vorsprung hatte der Slowene zu diesem Zeitpunkt schon in der Gesamtwertung, am Ende dieses Freitages würden es mehr als fünf Minuten sein.
Bei seinem Sturm gen Gipfel holte Pogačar einen Fahrer nach dem anderen ein, die Überreste der Ausreißergruppe des Tages. Die Spitze des Rennens war mit fast vier Minuten Vorsprung auf das Peloton in den letzten Anstieg gegangen, doch dieser Vorsprung schmolz dahin wie ein Wassereis in der südfranzösischen Sonne. An einer Stelle zischte Pogačar derart schnell an Richard Carapaz vorbei, dass der ecuadorianische Olympiasieger wie ein Nachwuchsfahrer aussah, der aus Versehen mit den Profis gestartet war.
Als Pogačar kurz vor der Zwei-Kilometer-Marke schließlich den Führenden Matteo Jorgenson ein- und mit einem schnellen, brutalen Antritt überholte, da hatte selbst die belgische Kommentatorenlegende Rodrigo Beenkens, ein Mann extrem vieler Worte, nur noch ein einziges übrig: “Impitoyable”, sagte Beenkens in der Fernsehübertragung. Unbarmherzig.
Denn unbarmherzig, das ist Pogačar auf dem Weg zu seinem Tour-de-France-Sieg – dem dritten Gesamtsieg im Alter von nur 25 Jahren, selbst der große Eddy Merckx war bei seinem dritten Sieg schon 26. Von Beginn an dominierte der Slowene seine Konkurrenz, griff auf praktisch jeder Etappe an, sei es in den Bergen oder auf den weißen Schotterstraßen um Troyes. Wenn er sich entschloss, den Ausreißern den Tagessieg wie auf der 18. Etappe noch aus den Händen zu reißen, dann tat er es. Weil er es konnte. Weil man, wie er am Ende der 20. Etappe sagte, im Radsport nicht bremst: “You don’t break in cycling.” Fünf Etappen hat Pogačar vor dem abschließenden Einzelzeitfahren nach Nizza bereits gewonnen. Und bei dem müsste er schon vom Rad fallen, um den Toursieg doch noch zu verspielen.
Die Dominanz des Slowenen – und seiner Mannschaft UAE Team Emirates – bei der diesjährigen Frankreichrundfahrt war erdrückend. Schon nach der zweiten Etappe schnappte Pogačar sich das Gelbe Trikot des Gesamtführenden, er gab es nur für einen weiteren Tag ab. Die erste schwere Hochgebirgsetappe über den Col du Galibier, am vierten Tag der Tour, war dann schon die Vorentscheidung.
Gänzlich unerwartet ist sein Gesamtsieg nicht. Als einziger der “Großen Vier” (Pogačar, Vingegaard, Primož Roglič, Evenepoel), denen man einen Toursieg zutraute, war er in der Vorbereitung nicht schwer gestürzt. Dennoch wussten viele nicht, wie der Slowene in Form sein würde, der im Mai schließlich bereits die Italienrundfahrt dominiert hatte. Zu den konventionellen Radsportweisheiten gehört: Wer den Giro d’Italia fährt, dem gehen spätestens in der letzten Tourwoche die Beine aus. Nicht so Pogačar: Er wurde sogar noch besser. Und ist nun der erste Fahrer seit Marco Pantani vor einem Vierteljahrhundert, der den Giro und die Tour in derselben Saison gewinnt.
Dabei ist es nicht so, als sei die Konkurrenz, vor allem Vingegaard und Evenepoel, wegen ihrer Sturz-beeinträchtigten Vorbereitung in schlechter Verfassung angereist. Am zweiten Tourwochenende in den Pyrenäen brachen sowohl der Däne als auch der junge Belgier den Geschwindigkeitsrekord am Plateau de Beille – eine Bestzeit von Marco Pantani, aufgestellt in den Hochzeiten des Blutdopings der 1990er. Das Problem? Tadej Pogačar war noch schneller. 39 Minuten und 41 Sekunden benötigte der Slowene für die 15,8 Kilometer mit einer durchschnittlichen Steigung von 7,9 Prozent. Damit war Pogačar dreieinhalb Minuten schneller als Pantani. Um diese Leistung zu bringen, musste er härter in die Pedale treten, als es womöglich jemals ein Radprofi für eine solche Zeit getan hat. Wie der Radsportblog Lanterne Rouge errechnete, hätte Tadej Pogačar demnach geschätzt 6,98 Watt pro Kilogramm Körpergewicht getreten – das wäre die beste Kletterleistung in der Geschichte des Radsports (Vingegaard, übrigens, hätte nach derselben Rechnung die zweitbeste Leistung aller Zeiten am Berg hingelegt und trotzdem mehr als eine Minute Rückstand kassiert).
Angesichts dieser Zahlen ist es kein Wunder, dass auch dieser Toursieg von einem Dauerrauschen begleitet wird. Können diese Leistungen ohne verbotene Hilfe vollbracht werden? Es ist das ewige Getuschel, das den Radsport ob seiner Geschichte – zurecht – begleitet.
Da hilft es auch nicht, dass Pogačars Mannschaft UAE Team Emirates (wie auch das Vingegaard-Team Visma-Lease a Bike und die Mannschaft Israel-Premier Tech) bestätigt hat, mit einem Kohlenmonoxid-Rückatmungsgerät zu arbeiten. Diese Geräte werden in der Medizin dazu genutzt, schnell und unkompliziert Blutwerte zu messen. Allerdings gibt es auch Studien, die nahelegen, dass Sportler, die das gefährliche Kohlenmonoxid öfter und intensiv einatmen, damit ihre Leistung steigern können.
Konkret hat die Nutzung eines solchen Geräts einen ähnlichen Effekt wie ein Trainingslager in der Höhe: Der Körper der Sportler bildet mehr Hämoglobin – ein für Athleten wichtiger Sauerstofftransporteur. Es gibt Experten, die die Praxis klar für Doping halten – auch wenn sie von der Welt Anti-Doping Agentur (Wada) nicht als solches klassiert ist. Womöglich noch nicht. Der Sportmediziner Walter Schmidt von der Universität Bayreuth, der 2020 an einer Studie beteiligt war, die solchen Kohlenmonoxidinhalationen eine deutlich leistungssteigernde Wirkung nachweisen konnte, sagte beispielsweise der Sportschau: “Für mich und jeden, der in diesem Bereich arbeitet, ist das Doping. Es ist leistungssteigernd, es ist gefährlich und es widerspricht den Regeln des Sports.”
Die Tour-de-France-Teams beteuern, die Geräte nur für Messzwecke zu nutzen. Doch fährt der Zweifel einmal mit, ist er nur schwer zu stoppen. Da halfen auch die Aussagen von Tadej Pogačar nicht, der Journalistenfragen lapidar beantwortete: “Es ist nur ein Test. Sie atmen eine Minute lang in einen Ballon.”
Klar ist jedenfalls, dass Tadej Pogačar – ein Fahrer, der eh nur wenige Schwächen hatte – seine größte offenbar nicht mehr hat: lange Anstiege in großer Hitze. Es waren genau solche Etappen, auf denen er sich 2022 (am Col du Granon) und 2023 (am Col de la Loze) Jonas Vingegaard geschlagen geben musste. Anstiege von mehr als 40 Minuten, an denen der kleine, deutlich leichtere Vingegaard im Vorteil war. In der Radsport-Community wird gewitzelt, Pogačar fahre diese Berge nun eben in unter 40 Minuten hoch.
Dass er zwei Jahre in Folge auf dieser Art Terrain geschlagen wurde, verleitete Pogačar am Ende der vergangenen Saison zu einem Trainerwechsel. Seinen langjährigen Coach Iñigo San Millán ersetzte er durch den Spanier Javier Sola. Sein letztes Trainingslager vor der Tour verbrachte Pogačar dann nicht etwa in der Höhe der spanischen Sierra Nevada, wie viele andere Teams, sondern in den Pyrenäen – den Straßen, auf denen er seinen Toursieg klarmachte.
Zugute kam ihm auch, dass er mit Abstand die beste Mannschaft um sich herum hatte: Seine beiden Edelhelfer João Almeida und Adam Yates sind 4. beziehungsweise 6. in der Gesamtwertung. Ein weiterer Helfer, der Spanier Juan Ayuso, war 9., als er während der 13. Etappe mit Covid aufgeben musste.
Nun ist Tadej, der Unbarmherzige, bald dreifacher Tour-de-France-Sieger. Bei sieben Landesrundfahrten ist Pogačar seit seiner ersten, der Vuelta 2019, an den Start gegangen – vier hat er gewonnen, zweimal war er Zweiter, einmal Dritter. Er hat bereits sechs Klassikerrennen gewonnen. Bei den Olympischen Spielen und der Weltmeisterschaft wird er, natürlich, zu den Favoriten gehören. Und wenn er wirklich wollte, könnte er im Herbst bestimmt auch mit legitimen Ansprüchen bei der Spanienrundfahrt antreten. Alle drei Grand Tours in einer Saison? Das hat noch niemand geschafft, nicht mal Eddy Merckx.
Nach diesen drei Tourwochen ist schwer vorstellbar, wer Tadej Pogačar in den kommenden Jahren bei einer dreiwöchigen Rundfahrt schlagen soll. Dabei vergisst man schnell, dass dieselbe Diskussion im vergangenen Jahr auch geführt wurde – nur über Jonas Vingegaard.