Syrischer Journalist über Assads Sturz: „Endlich ist dieser Spuk vorbei“ | ABC-Z
taz: Herr Hossein, was bedeutet der Sturz der Assad-Diktatur Ihnen persönlich?
Siruan H. Hossein: Ein Hauptziel meines Lebens erfüllt sich. Der Grund für die Flucht meiner Familie vor 34 Jahren war die Assad-Familie. Endlich ist dieser Spuk vorbei. Das ist die tollste Nachricht seit Langem. Ich glaube, niemand hat das erwartet, aber ich habe daran geglaubt. Doch die Zeit danach braucht weiterhin viel Arbeit.
Im Interview: Siruan H. Hossein
lebt seit 1990 in Deutschland. 2013 gründete er in Nordsyrien den Radiosender Arta FM, der auf Kurdisch, Arabisch, Aramäisch und Armenisch berichtet.
taz: Mit dem Sturz der Diktatur kommt die Hoffnung, dass eine freie Medienlandschaft in Syrien entstehen kann.
Hossein: Ja, ich hoffe, dass die Syrer aus der Vergangenheit gelernt haben, dass freie Medien wichtig sind, dass Medien sich der Kontrolle des Staates entziehen müssen. Das Informationsministerium, das für Medien zuständig ist, gehört abgeschafft. Wenn die Alternative zu Assad nur ein Stühlerücken ist, was haben wir dann davon?
taz: Arta FM berichtet aus den kurdisch kontrollierten Gebieten im Nordosten. Wollen Sie nach dem Sturz Assads in Syrien expandieren?
Hossein: Wir wollen weiterhin lokal und nicht national arbeiten. Aber wir haben jetzt eine Hauptstadt, wo wir Zugang haben und willkommen sind. Hoffentlich. Die Entscheidungen, die in Damaskus getroffen werden, beeinflussen auch das Leben der Leute in unserem Sendegebiet. Wir werden auf jeden Fall eine Korrespondentin oder einen Korrespondenten dort haben. Und wir müssen auch versuchen, dass die Syrer sich nach 54 Jahren Assad-Diktatur kennenlernen und miteinander reden.
taz: Teile der arabischen Bevölkerung in Nordostsyrien fremdeln mit der kurdischen Vorherrschaft. Ihr Sender hat mit Al Furitya auch ein arabisches Programm. Was haben Sie in den letzten Jahren gelernt?
Hossein: Wir haben den Menschen in Rakka zum ersten Mal Programme in ihrem eigenen arabischen Dialekt angeboten. Das Team besteht aus Frauen und Männern aus diesen Communitys. Die Sendung wird nicht von jemand aus Damaskus mit Damaszener Dialekt moderiert, wie oft in Regimezeiten, sondern von Menschen aus der Region mit ihrem Dialekt. Wir reagieren auf Bedürfnisse und Belange und spielen Musik, die Menschen in der Region gerne hören. Deswegen sind wir heute der erfolgreichste Radiosender in ganz Syrien.
taz: Bei Ihnen arbeiten viele Frauen, besonders beim weiblichen Sender Zin FM. Wie hat sich die Geschlechtergerechtigkeit verbessert?
Hossein: Ich sage meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern manchmal: Was für euch heute selbstverständlich ist, war vor zehn Jahren nicht selbstverständlich. Viele sind groß geworden mit den Werten der Gleichstellung von Frau und Mann. Junge Frauen können bei uns von Management bis Technik, Moderation, Reportage und Nachrichten alles lernen, in einem 100-Prozent-Frauen-Team. Früher war unsere Einstellung: Wir senden von Frauen für Frauen. Dann haben wir gesagt: Warum nur für Frauen? Nein, von Frauen für die Gesellschaft. Die Gesellschaft muss die Art, wie Frauen Journalismus machen, kennenlernen.
taz: Trotz der neuen Errungenschaften wird die in Nordostsyrien herrschende PYD kritisiert, weil sie politische Freiheiten einschränke. Können Sie immer frei berichten?
Hossein: Wir haben Grenzen. Alle de-facto-Kräfte in Syrien haben ihre roten Linien. Überschreitet man die, dann befindet man sich in Lebensgefahr. Es gibt niemanden, der sagt: Ihr dürft das und das nicht, sondern es ist eine Art Selbstzensur. Wir wissen, was möglich ist und was nicht.
taz: Was ist denn nicht möglich?
Hossein: In militärischen Sachen zum Beispiel haben wir keine Erfahrung. Wir würden nie jemanden an die Front schicken, weil es zu gefährlich ist. Eine andere Sache sind ideologische Fragen, die der PYD wichtig sind: Den Führer der PKK (Abdullah Öcalan, Anm. d. Red.) stellen wir nicht infrage. Und warum sollten wir? Das ist nicht unsere Aufgabe als Sender, der für die täglichen Belange der Menschen zuständig ist.
taz: Nach wie vor bedrohen türkisch gesteuerte SNA-Milizen die Kurden im Norden, die Türkei bombardiert und fährt Truppen an der Grenze auf. Fürchten Sie eine erneute Invasion?
Hossein: Ich habe eben mit unserem Büroleiter in Kobane gesprochen. Er sagt, wenn es Nacht wird, haben die Menschen Angst. Dann sitzen sie in ihren voll betankten Wagen mit ihren Koffern, decken sich zu und machen sich bereit für die Flucht. Und wer weiß, ob die Türkei nicht eine Stadt nach der anderen besetzt. Dann hätten wir zwei bis drei Millionen Flüchtlinge. Wohin sollen die gehen? Jetzt, wo es endlich wieder möglich ist, dass Flüchtlinge nach Syrien zurückkehren, versucht die Türkei, Menschen aus Syrien zu vertreiben.
taz: Was sollten Nato-Verbündete der Türkei wie Deutschland und die USA tun?
Hossein: Ich hoffe, dass sie Druck auf die Türkei ausüben und auch mit Sanktionen drohen, oder die Türkei, in welcher Form auch immer, bestrafen.
taz: Was erwarten Sie von der deutschen Regierung?
Hossein: Die Bundesregierung hat die Zivilgesellschaft und die Medien im Nordosten Syriens nicht unterstützt. Sie steht weiterhin an der Seite der Türkei. Sollte die Bundesregierung Interesse daran haben, dass Syrien ein demokratischer Staat wird und dass die Menschen dort in Frieden leben, sollte sie nicht nur in eine Richtung schauen und die andere vernachlässigen. Wir können als deutsch-syrische Partner im neuen Syrien behilflich sein.