Geopolitik

Syrien-Umsturz und die Folgen: Deutschland, der interessierte Beobachter des Weltgeschehens ohne Einfluss | ABC-Z

Nach dem Umsturz in Syrien dreht sich im Wahlkampf alles um eine Rückkehr von Flüchtlingen. Das zeigt vor allem Defizite der Migrationspolitik. Doch die Lektion sollte sein: Deutschland braucht eine starke Wirtschaft und eine handlungsfähige Bundeswehr – sonst ist es dem Treiben von Autokraten ausgeliefert.

Die Implosion des syrischen Regimes bedeutet eine Umwälzung der geopolitischen Machtverhältnisse seltenen Ausmaßes. Der Sturz des Tyrannen Assad betrifft unter anderem Iran und seine Proxys, Israel, die Golfstaaten und die Türkei. Die imperialen Großmachtambitionen Russlands sind ebenso tangiert wie Afrika, die USA und die EU.

Die Verteidigungskriege der Ukraine gegen Russland und Israels gegen Irans Vasallen in Gaza und Libanon haben quasi nebenbei einen anderen Staat von seinem durch Moskau und Teheran gestützten Diktator befreit – und stellen damit die Berliner Deeskalations-Mahnrufe zur Wahrung der Status-quo-Stabilität zumindest infrage.

All das spielt in Deutschland bestenfalls eine Nebenrolle. Es herrscht Wahlkampf, und alle Parteien nutzten das historische Ereignis vornehmlich, ihre Positionen in der Migrationspolitik zu markieren. Lebhaft wird die Frage diskutiert, ob und wann und wie syrische Flüchtlinge in ihre Heimat zurückkehren können.

Das ist einerseits nachvollziehbar, stellen die Syrer mit rund einer Million Menschen doch die zweitgrößte Flüchtlingsgruppe im Land und sind damit eine Hauptursache für die nahezu erschöpften Aufnahme- und Integrationsmöglichkeiten. Andererseits handelt es sich um eine Debatte ohne Geschäftsgrundlage: Niemand weiß, ob die diversen Rebellengruppen Syrien neue Perspektiven oder weiteres Chaos bringen werden.

Die Debatte zeigt mithin vor allem eines: Die Migrationspolitik Deutschlands und Europas ist weiterhin nicht wetterfest. Man ist abhängig von externen Ereignissen, ein interessierter Beobachter des Weltgeschehens, der mit den Folgen umgehen muss, aber wenig Einfluss hat.

Berlin und Brüssel sind im laufenden Machtkampf in Syrien nachrangige Akteure, bestenfalls gefragt als Finanziers humanitärer Hilfe und eines möglichen Wiederaufbaus. Das ist natürlich kein attraktives Wahlkampfthema, damit lässt sich schwerlich auf Stimmenfang gehen.

Ökonomische Stärke ist ein geopolitischer Machtfaktor

Nun kann man mit dem Politikwissenschaftler Herfried Münkler sagen: Deutschland hat eben keine Politiker mehr wie Helmut Schmidt und Franz Josef Strauß, die noch in geopolitischen Dimensionen zu denken vermochten. Sie sind der Politik altersbedingt abhandengekommen. Aber wer mehr als Bürger eines von der Weltlage getriebenen Landes sein möchte, der sollte in den Wahlprogrammen der Parteien nach Inhalten fahnden, die einen Beitrag leisten könnten, das zu ändern.

Ob Syrien, Ukraine-Vollinvasion oder Afghanistan-Abzug: Stets wurde die Bundesregierung von der Dynamik der Entwicklungen überrumpelt. Das Bekenntnis in der Nationalen Sicherheitsstrategie, sich „für eine verstärkte Nutzung wissenschaftsbasierter Ansätze für Krisenfrüherkennung“ und „strategische Vorausschau“ einzusetzen, steht nur auf dem Papier. Es erforderte entsprechende Instrumente, zum Beispiel leistungsstarke Nachrichtendienste, wie es der BND früher in Russland und Nahost gewesen ist. Oder Institutionen wie einen Nationalen Sicherheitsrat, der diese Erkenntnisse mit dem Wissen der Ministerien koordiniert und in strategische Politikberatung umsetzt.

Wer dem Treiben von Autokraten und dessen Folgen nicht machtlos ausgesetzt und sich auf in der Regel wirkungslose, moralische Appelle beschränken will, benötigt schließlich Wirtschaftswachstum und militärische Instrumente. Ökonomische Stärke und eine handlungsfähige Bundeswehr sind geopolitische Machtfaktoren.

Wer von Verteidigung gegenüber Russland im Rahmen der Nato, Krisenintervention der EU und mit eigener Kraft hinterlegter Diplomatie redet, der muss etwas für seine Unternehmen und seine Streitkräfte tun. Der Fall Syrien sollte sich deshalb auch im Wahlkampf nicht allein auf die notwendige Flüchtlingsdebatte beschränken.

Politikredakteur Thorsten Jungholt ist zuständig für die Berichterstattung über Bundeswehr, Sicherheitspolitik, Justiz und die FDP.

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