Kultur

Die Linke und Antisemitismus: Es ist nicht nur eine Definitionsfrage | ABC-Z

Deutschland hat ein
Antisemitismusproblem. Ein Problem mit antisemitischen Übergriffen, mit verbalen
Attacken und Gewalttaten aus dem rechten, linken und migrantischen Milieu – und
ein Problem mit dem Sprechen über dieses Problem. Mittlerweile ist der Ton der
Debatte so übersteuert, dass sie dem notwendigen Kampf gegen Antisemitismus und
Israelhass mehr schadet, als ihm zu nützen.

Jüngstes Beispiel sind die
Reaktionen auf den Parteitagsbeschluss der Linken, die
Antisemitismus-Definition der Jerusalem Declaration (JDA) derjenigen der
International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) vorzuziehen. Es gibt gute
Gründe, politische Abstimmungen über Antisemitismus-Definitionen fragwürdig zu
finden (so wie Jan van Aken, der Parteivorsitzende der Linken, Bodo Ramelow und
andere es tun). Der Sturm der Entrüstung, der in den vergangenen Tagen losbrach, hatte
jedoch einen ganz anderen Charakter. Von einem “Skandal-Beschluss” sprach die Bild-Zeitung.
Die “hochumstrittene” Jerusalemer Erklärung sei “irre”, denn: “Die Ausgrenzung
von Juden, wie sie auch die Nazis zu Beginn ihrer Terror-Herrschaft (‘Kauft
nicht bei Juden’) praktizierten, ist jetzt nach der Antisemitismus-Definition
der Linken NICHT mehr antisemitisch.”

Empörung kam auch aus den Reihen
der CSU: Der Landesgruppenchef der Partei im Bundestag, Alexander Hoffmann,
bezeichnete die Linke rundheraus als “antisemitisch”, das Votum für die
Jerusalemer Erklärung sei “beschämend”; in dieser Erklärung, hieß es in
mehreren Presseberichten, werde Israelfeindlichkeit bei der Definition von
Antisemitismus nicht erwähnt.

Nicht zuletzt äußerte sich Josef
Schuster, der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland. Die Linke,
sagte er, zeige, wo sie stehe: “nicht an der Seite der Jüdinnen und Juden in
Deutschland.”
Die Ablehnung der IHRA-Definition belege, dass die Partei in
ihrem radikalen Kern von “Israelhass” getrieben sei. Er forderte daher alle
anderen Parteien auf, sich von der Linken zu distanzieren.

Welche Motive diesen Reaktionen
auch immer zugrunde liegen – anti-linker Kulturkampf, parteipolitische
Profilierungssucht oder verständliche Besorgnis –, in ihren Aussagen über die
Antisemitismus-Definition der Jerusalem Declaration sind sie falsch, irreführend
und nicht hilfreich für eine sachliche Auseinandersetzung. Und so sehr Die Linke sich mit antisemitischen Ressentiments und israelfeindlichen Positionen
in ihren eigenen Reihen befassen muss, so wenig eignet sich die Jerusalemer
Definition dazu, ihr in dieser Hinsicht Vorwürfe zu machen.

Die Jerusalem Declaration on
Antisemitism
wurde 2021 von einer internationalen Gruppe von
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern verfasst, unter ihnen viele Juden
und/oder Israelis. Ziel war es, der allgemeiner gefassten “Arbeitsdefinition”
der IHRA von 2016 eine präzisere Alternative gegenüberzustellen und die Grenze
zwischen legitimer Kritik an der israelischen Regierung und israelbezogenem
Antisemitismus klarer zu ziehen. Die Kerndefinition lautet: “Antisemitismus ist
Diskriminierung, Vorurteil, Feindseligkeit oder Gewalt gegen Jüdinnen und Juden
als Jüdinnen und Juden (oder jüdische Einrichtungen als jüdische).”

Es folgt eine kurze Auflistung
allgemeiner interpretatorischer Leitlinien (wobei sich die beiden Definitionen
in vielem decken) und eine längere zur Debatte über Israel und Palästina – eine
Reaktion auf die IHRA-Definition, in der sieben von elf Unterpunkten dem
israelbezogenen Antisemitismus gewidmet sind. Die JDA-Leitlinien umfassen, im
Unterschied dazu, nicht nur Beispiele für antisemitische Äußerungen zu Israel,
sondern auch für Formen nicht antisemitischer Kritik.

Zu letzteren – das gehört zu den heiklen
Punkten des Dokuments – zählen die Autorinnen und Autoren Boykott-Aktionen.
Boykotte und Sanktionen seien ein legitimes politisches Druckmittel gegen
Staaten und auch auf Israel angewandt nicht per se antisemitisch, es sei denn,
sie fallen unter die gegebene Antisemitismus-Definition und die entsprechenden
Leitlinien. Dies ist, wie es in der FAQ-Rubrik der JDA-Webseite heißt,
ausdrücklich kein Bekenntnis zu dem Aktionsbündnis BDS (Boycott, Divestment,
Sanctions), das teils offen antisemitisch gegen Israel agitiert. Auch
Boykott-Maßnahmen gegen “Jüdinnen und Juden als Jüdinnen und Juden” wie im
Nationalsozialismus sind – das versteht sich von selbst – der Jerusalemer
Erklärung zufolge eindeutig als Akte antisemitischer Diskriminierung zu
begreifen.

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