Streit um “Hitler-Balkon” in der Wiener Hofburg – Kultur | ABC-Z

Der berühmteste Balkon Österreichs ist nicht einfach zu finden. Man muss in der Wiener Hofburg durch ein Treppenhaus und über eine Prachtstiege, bis man irgendwann vor einer Glastür steht. Dahinter erstreckt sich eine terrassenartige Fläche, rund 200 Quadratmeter groß, mit einer steinernen Brüstung. Der Ort, an dem Hitler am 15. März 1938 stand und den jubelnden Massen den „Anschluss“ Österreichs an Nazi-Deutschland verkündete.
Den Ort geschichtsträchtig zu nennen, ist stark untertrieben. Der Balkon auf dem Heldenplatz wurde zum Symbol für Hitlers Expansionspolitik, die bald darauf in einen Vernichtungskrieg mündete, und für die mediale Inszenierung durch die nationalsozialistische Propaganda. Die Szenen vom Balkon und den begeisterten Menschen darunter gehören nicht nur zu den bekanntesten Aufnahmen aus der NS-Zeit, sie sind auch in die österreichische Geschichte eingeschrieben wie kaum ein anderes Ereignis.
Eine unheilvolle Tradition
Sie stehen für das erzwungene Ende des souveränen Staates und für die Willfährigkeit, mit der sich der größte Teil der Bevölkerung den neuen Machthabern unterwarf. Und sie wurden seither immer wieder be- und überschrieben. Durch Auftritte von Künstlern auf dem Heldenplatz, Mahnwachen oder große Demonstrationen gegen Rechtsextremismus. Nicht zuletzt handelt das wahrscheinlich wichtigste Theaterstück der österreichischen Zeitgeschichte, Thomas Bernhards „Heldenplatz“ (1988), von dem Ort und der Mitverantwortung Österreichs an den Verbrechen des Nationalsozialismus.
Doch der Balkon selbst ist bis heute eine Leerstelle. Beziehungsweise eine No-go-Area. Man darf ihn nicht betreten und nicht besichtigen, es gibt keine Hinweistafeln und kein Mahnmal. Alles, was man darf, ist, durch die versperrte Balkontür zu gucken. Die befindet sich im Haus der Geschichte Österreichs, einem Museum, das 2018 in diesem Teil der Hofburg eingerichtet wurde. In zahlreichen Vitrinen, mit Jahreszahlen versehenen Nischen und Sonderausstellungen geht es hier um die Erste und Zweite Republik und alles, was dazwischenlag, die Dollfuß-Schuschnigg-Diktatur in den Dreißigerjahren, die Verbrechen des Nationalsozialsozialismus. Die ideale Umgebung also, um mit jenem Gebäudevorsprung umzugehen, der architektonisch gesehen ein „Altan“ ist, im Volksmund aber nur als „Hitler-Balkon“ bezeichnet wird.
Doch auch das Haus der Geschichte darf den Balkon nicht der Öffentlichkeit zugänglich machen. Offiziell aus baulichen Gründen. Die Burghauptmannschaft, die für historische Gebäude im Besitz der Republik zuständig ist, sieht etwa wegen der niedrigen Balustrade die „Verkehrssicherheit“ gefährdet. Die Historikerin Monika Sommer, Leiterin des Hauses der Geschichte, vermutet jedoch, dass es noch tieferliegende Gründe geben könnte. Einen gewissen Unwillen der Republik nämlich, sich ein Konzept zu überlegen und sich damit auch der Verantwortung für die eigene Geschichte zu stellen. Sommer formuliert das nicht so, sie sagt, sie empfehle „der Bundesrepublik einen anderen Umgang mit dem Balkon“. 80 Jahre nach Kriegsende sei es höchste Zeit dafür.
Es gibt viele Beispiele, wie man mit hochbelasteten Orten oder Gegenständen umgehen kann. Auf dem Nürnberger Reichsparteitagsgelände wurde ein umfangreiches Dokumentationszentrum eingerichtet. Skulpturen, die Hitler und die Nationalsozialisten in Auftrag gaben, sind in der Berliner Zitadelle Spandau ausgestellt und kontextualisiert, das Museum als fachgerechte Entsorgung toxischer Kunst. Alles sei besser, als einen solchen Ort leer stehen zu lassen, sagt Sommer. Das halte ihn „semantisch offen und sorgt dafür, dass er von allen Seiten vereinnahmt werden kann“.
So wie von der extrem rechten jungen FPÖ, die 2023 in einem Video den Balkon auf dem Heldenplatz einblendete, während sie von „Massenmigration“ und „Bevölkerungsaustausch“ schwadronierte, die bekämpft werden müssten. Die Nicht-Nutzung, so Sommer, stehe zudem in einer unheilvollen Tradition. Nach Hitlers Auftritt durfte der Balkon nicht mehr verwendet werden, der Führerkult schrieb vor, dass sich niemand in Konkurrenz zu diesem Ereignis begeben dürfe. Die Zweite Republik setzte diesen Umgang in gewisser Weise fort, indem sie den Balkon tabuisierte. Als Ort, den man nicht betreten darf und den man auch sonst ausblendete. Als Papst Johannes Paul II. 1983 eine Vesper auf dem Heldenplatz abhielt, wurde eine Art Wolkeninstallation errichtet, die den Blick des Publikums vom Balkon ablenken sollte.
Erika Freemans „persönliche Rache an Hitler“
„Der Ort braucht eine neue Erzählung für die liberale Demokratie und die Menschenrechte“, sagt Sommer. Sie hat inzwischen selbst vorgelegt. Sie hat vor der verschlossenen Balkontür eine Wand mit Bildschirmen aufgestellt, auf der Besucher ihre Ideen für eine Nutzung formulieren konnten. Darunter: ein Café, EU-Fahnen oder die Aufschrift „Think before you follow“. 2022 hat sie eine Sondergenehmigung beantragt, damit die Holocaust-Überlebende Erika Freeman auf dem Balkon stehen darf, für Freeman war das, wie sie sagte, die „persönliche Rache an Hitler“.
Zuletzt hat Sommer in Zusammenarbeit mit der Kunstuniversität Linz Künstlerinnen und Künstler gebeten, sich Konzepte für den Balkon zu überlegen. Drei Modelle sind nun im Haus der Geschichte ausgestellt. Eines sieht eine riesige Plexiglasdecke vor, die über den Balkon gelegt werden soll, eine Art gläserner Sarg der Geschichte. Ein anderes schlägt vor, den Balkon abzutragen und nach innen zu stülpen, eine Dekonstruktion, die gleichzeitig eine Bürde ist. Der dritte Entwurf ist so einfach wie zwingend: ein riesiger Stein. Der Monolith soll aus dem Steinbruch, der am Konzentrationslager Mauthausen lag, gehauen werden und als Mahnmal auf dem Balkon stehen.

:Weltoffenes Wien? Von wegen
Österreichs Hauptstadt brüstet sich gern damit, die lebenswerteste Stadt der Welt zu sein. Das ist sie aber längst nicht für alle. Am Sonntag ist Kommunalwahl, und mehr als ein Drittel der Einwohner darf sich nicht beteiligen.
Es sind reine Gedankenspiele, für die weder Statik noch Denkmalschutz miteinbezogen werden mussten. Denn die Wahrscheinlichkeit, dass mit dem Hitler-Balkon demnächst etwas passieren wird, ist nicht sehr groß. Zumal auch der Rahmen drum herum wegfallen dürfte. Das Haus der Geschichte soll hier nämlich wegziehen. Auch für diesen Plan gibt es mehrere Lesarten. Offiziell ist in der Wiener Hofburg zu wenig Platz, weshalb im Museumsquartier zwischen den bereits bestehenden Museen bis 2028 ein luftiger Holzbau errichtet werden soll. Ein anderes Motiv könnte sein: Das offizielle Österreich will an dem geschichtsträchtigen Ort eigentlich kein Haus der Geschichte. Die Hofburg soll wieder jenes repräsentative Gebäude aus der Habsburger Monarchie sein, das es früher einmal war. Ein Postkartenmotiv, dessen Bruchstelle man verdrängt.
Ein Indiz dafür ist die lange Geschichte des Hauses der Geschichte. Sie ist auf einer Tafel im Treppenhaus dargestellt und so kompliziert, dass man Stunden bräuchte, um sie zu durchdringen. Kurzfassung: Konservative und Sozialdemokraten, die das Land lange in großen Koalitionen regierten, wollten zwar schon seit Kriegsende ein Zeitgeschichte-Museum einrichten, hatten aber unterschiedliche Vorstellungen davon, wie man mit der eigenen Geschichte umgeht – und boykottierten die Konzepte der jeweils anderen Partei. Erst als sich das gesellschaftliche Verständnis von Museumskultur änderte und davon, wie veränderlich die Darstellung von Geschichte sein kann, kam Bewegung in die Sache, und das Haus der Geschichte erhielt seine Räume auf dem Heldenplatz. An dem Ort, den Monika Sommer als den „heimlichen Hauptplatz der Republik“ bezeichnet.
Sie habe sich als Gründungsdirektorin beworben, weil sie „beseelt von den Ideen und Debatten“ gewesen sei, wie man einen solchen Ort bespielen kann. Sie entschied sich dafür, das Museum auch als „Gesprächsraum“ zu begreifen. Wo man Themen zur Debatte stelle, die in der Gesellschaft noch keinen Konsens gefunden haben. „Gerade in dieser polarisierten Gesellschaft post Corona sind solche Räume zentral.“
Es liegt auf der Hand, dass man solche Diskussionen am besten an Orten führt, die selbst aufgeladen mit Bedeutung sind. Österreich hat sich mit dem geplanten Umzug des Hauses der Geschichte dazu entschieden, sie an einen Nebenschauplatz zu verlagern. Am geschichtsträchtigen Heldenplatz sollen dann weiterhin die Nationalbibliothek, die Musikinstrumenten-Sammlung und die antike Kunst des Ephesos-Museums untergebracht sein. So, als wäre hier nie etwas geschehen.