Steigende Sozialabgaben: Der Staat bestellt, die anderen zahlen | ABC-Z

Katherina Reiche ist nicht um deutliche Worte verlegen. Wie kaum ein anderes Regierungsmitglied warnte die Wirtschaftsministerin zuletzt vor zusätzlichen Belastungen für die deutschen Sozialsysteme. Der “Kipppunkt” rücke immer näher, sagte die CDU-Politikerin. Zuvor sorgte ihre Forderung nach einer längeren Lebensarbeitszeit, um die Rentenbeiträge stabil zu halten, für Entrüstung.
Tatsächlich ist der Druck auf die Sozialsysteme enorm. Das liegt vor allem an der demografischen Entwicklung, aber nicht nur. Die finanzielle Schieflage wird auch durch politische Entscheidungen verstärkt. Gerade erst hat die Regierung beschlossen, das Rentenniveau bis
2031 bei 48 Prozent des jeweils geltenden Durchschnittslohns zu
sichern. Außerdem, und das geht in der öffentlichen Debatte häufig unter, wälzt der Bund die Kosten für zahlreiche Leistungen an die Versicherten ab, die eigentlich eine
staatliche Aufgabe wären – und demnach auch aus Steuermitteln
finanziert werden müssten.
Es geht um Leistungen, die nicht auf Versicherungsbeiträgen basieren,
sondern in der Regel allgemeinen, gesellschaftlichen Zielen dienen, etwa
dem sozialen Ausgleich. Im Fachjargon werden sie demnach als
beitragsfremd oder versicherungsfremd bezeichnet.
Der Wirtschaftsweise Martin Werding forscht zur Finanzierung
der Sozialsysteme und gilt als einer der führenden Experten auf diesem
Gebiet. Er sagt im Gespräch mit der ZEIT: “Der Bund generiert immer
wieder zusätzliche Lasten für die Sozialversicherungen – übernimmt sie
aber nicht vollständig oder zieht Mittel kurzfristig ab.” Bezahlen
müssten das dann die Versicherten durch höhere Beiträge oder zum
Beispiel die Rentner durch geringe Rentenanpassungen.
Während die damalige Große Koalition noch 2021 versprochen hatte, die Sozialabgaben auf maximal 40 Prozent des Bruttolohns zu deckeln, liegen die Beiträge für Renten-, Kranken-, Pflege- und Arbeitslosenversicherung mittlerweile bei 42 Prozent. Experten rechnen mit einem Anstieg auf 45 Prozent zum Ende der Legislaturperiode, in zehn Jahren könnten es knapp 50 Prozent sein. Nicht nur Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zahlen drauf, auch für Unternehmen, die die Sozialabgaben zur Hälfte finanzieren, sind die steigenden Lohnnebenkosten eine enorme Belastung.
Ein prominentes Beispiel bei der Rente sind die Ansprüche für Kindererziehungszeiten. Zwar übernimmt der Bund einen Teil der Kosten. Die Deutsche Rentenversicherung errechnete für das Jahr 2023 allerdings einen Betrag von rund 20 Milliarden Euro, der nicht durch Beiträge gedeckt ist. Mehr als zwölf Milliarden Euro davon entfielen auf die sogenannte Mütterrente – bezahlt durch die Versicherten. “Die Mütterrente ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe und vor allem politisch motiviert, daher sollte sie aus Steuermitteln finanziert werden”, sagt Peter Haan, Rentenexperte am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung. Immerhin soll die nun von der Bundesregierung geplante Ausweitung, die rund fünf Milliarden Euro kostet, vollständig aus dem Bundeshaushalt finanziert werden.
Weitere Leistungen, die von der Rentenversicherung als beitragsfremd eingestuft werden, sind die Rente mit 63, die Angleichung der Ostrenten und Anrechnungszeiten, in denen Versicherte etwa wegen Studium oder Schwangerschaft keine Beiträge gezahlt haben. “Es ist verteilungspolitisch ungerecht, wenn für diese gesamtgesellschaftlichen Aufgaben nur die Versicherten zahlen und nicht die gesamte Bevölkerung”, kritisiert Haan.
Tatsächlich sind nur 87 Prozent der Erwerbspersonen in Deutschland gesetzlich rentenversichert. Beamte wie Lehrerinnen, Polizisten oder Richterinnen erhalten eine eigene Versorgung durch den Staat, etwa in Form einer Beamtenpension. Auch viele Selbstständige sind nicht gesetzlich versichert und zahlen privat oder in eigene Versorgungssysteme ein, etwa Ärztinnen und Ärzte, Apotheker und Rechtsanwältinnen. Sie beteiligen sich demnach nicht an den teuren, beitragsfremden Leistungen der Sozialversicherungen.