Starrsinn: Welch bemerkenswerte Dickköpfigkeit | DIE ZEIT | ABC-Z

In der Reihe “Die Pflichtverteidigung” ergreifen wir das Wort für Personen, Tiere, Dinge oder Gewohnheiten, die mehrheitlich kritisiert und abgelehnt werden. Dieser Artikel ist Teil von ZEIT am Wochenende, Ausgabe 44/2025.
Aus dem endlosen täglichen Strom der Nachrichten steigt
immer mal wieder eine kleine Blase auf, kämpft sich bis zur Oberfläche – und platzt dann hörbar, sodass man tatsächlich hinguckt und sich fragt: echt
jetzt? Kamala Harris will bei den US-Präsidentschaftswahlen 2028 vielleicht noch einmal
antreten, die Frau, die Donald Trump bei den letzten Wahlen diesen grandiosen
Sieg beschert hatte und das ganze politische Drama der Demokratischen Partei
verkörpert wie niemand sonst, diese Ideenarmut, diese Überheblichkeit, diese
Realitätsverkennung und so fort. Man möchte gleich endlos weiterschimpfen, so
absolut verrückt und größenwahnsinnig erscheint diese Idee, wo die Republikaner
einen vermurksten, halbverpixelten Avatar Donald Trumps mit Tonausfällen und in
der falschen Hautfarbe aufstellen könnten, und er würde gewählt.
Mit anderen Worten, der Gedanke einer erneuten Kandidatur Kamala Harris‘ hat was – jawohl, schon. Wenn er auch mehr als seelisches Phänomen etwas hat, weniger als politisches. Was für eine Chuzpe, welch bemerkenswerte Dickköpfigkeit, ja welch Starrsinn in einer Sphäre, in der sonst alle vor Schuldbewusstsein zerfließen, wenn es mal schiefgegangen ist, auf die Knie sinken, das Schwert schon an den Bauchnabel führen und noch stammeln, nie wieder würden sie die Welt mit ihrer Gegenwart belästigen … Nicht so Harris.
Willy Brandt hat dreimal
kandidiert, bevor er zum Kanzler gewählt wurde. Niemand hätte Willy Brandt damals
Starrsinn vorgeworfen, obgleich auch der bei Gelegenheit einen ziemlich dicken
Kopf haben konnte.
Wie das rigide Verhalten so beurteilt wird, hängt halt von
der Umgebung und der Situation ab. Um es frei nach Karl Valentin zu sagen: Nur
im Starrsinn ist der Starrsinnige wirklich starren Sinnes. Manchmal ist er
nämlich nur entschlossen oder geradlinig oder beständig, denkt langfristig und
hat einen Plan, während alle anderen bloß ihr Adrenalin zirkulieren lassen,
zeigt also Charaktereigenschaften, für die eine und einer in höchstem Maße
belobigt wird. Die Grenze zum Starrsinn ist fein. Im Grunde entscheidet die
Sichtweise des maßgeblichen Umkreises darüber, ob im Einzelfall Lob oder Tadel
fällig wird. Familien sind für gewöhnlich ziemlich sicher im Urteil, wenn einer
die Wirklichkeit nicht mehr peilt und sich mit den Fäusten wedelnd durchsetzen
will. Dann wird Vater kaltgestellt oder, noch schlimmer, mit der Nachsicht von
Schwesternhelferinnen behandelt. Das war’s dann meistens wirklich.
Komplizierter wird die Sache, wenn die maßgebliche Umgebung
unklar geworden ist. Denn was ist die maßgebliche Umgebung von Kamala Harris? Ihre
Partei, die kaum noch stammeln kann, die Presse, die nicht mehr weiß, ob die
Welt inzwischen gefälscht ist, oder die sozialen Medien, die sich in einen
Schaum von Hass- und Gesinnungsblasen verwandelt haben, unberechenbar,
böswillig, selbst starrsinnig?
Da bekommt der Wunsch der Geschlagenen, es einfach noch
einmal zu versuchen, gleich einen anderen Charakter. Er könnte ja auch eine
große Geste sein: Hoch die Frauenfaust, Rettung meiner Persönlichkeit und ihrer
Ehre, nieder mit den weich gewordenen medialen Hirnen, nieder mit der
politischen Welt als deep fake (genauer: als shallow fake)!
So frei ist Kamala Harris in ihrem Starrsinn, aber so frei
ist Donald Trump eben nicht. Denn wenn der amtierende Präsident der Vereinigten
Staaten noch einmal kandidiert, was er will, aber nicht darf, weil er es schon
zweimal erfolgreich tat, ist dieser Starrsinn Trumps kein Zeichen von seelischer
Gesundheit, sondern ein angedrohter Bruch der Verfassung.





















