Politik

Bildhauerin Isa Genzken hat bisher beste Schau in Frankfurts Liebieghaus | ABC-Z

Vielleicht versteht man die Bildhauerin Isa Genzken nun in Frankfurt zum ersten Mal richtig. Die Arbeiten der Sechsundsiebzigjährigen werden im Skulpturenmuseum Liebieghaus mit alten Werken von ägyptischer Zeit bis ins 18. Jahrhundert kombiniert und kontextualisiert. Diese historische Hintergrundfolie, vor der Genzken tatsächlich stets arbeitete, macht die Fülle ihrer anspielungsreichen Kunst verständlich. Ebenso klar wird, dass sie an denselben Formproblemen arbeitet wie altägyptische, hellenistische oder spätgotische Bildhauer. Dass das Frankfurter Haus ebenso weltberühmt wie Genzken für farbig gefasste Skulpturen und ein Bollwerk der „Bunten Götter“ gegen den Irrglauben einer reinweißen Antike ist, bildet das Surplus der Schau „Isa Genzken meets Liebieghaus“.

Alles beginnt chronologisch im ägyptischen Saal mit Genzkens Gipsabgüssen der Nofretete aus der Berliner Gipsformerei. Eine weiße Gips-Pharaonin steht neben einer kräftig farbig gefassten auf von der Künstlerin entworfenen filigranen Holz-Ziehharmonika-Sockeln; beide tragen eloxierte Sonnenbrillen, die Nofretetes Eleganz trotz Verhängung des Blicks der geblendeten Gottkönigin noch betonen. Oder genauer: noch fokussieren, denn durch die semitransparente Brille der bunten Schönheitsgöttin sieht man deren Augen deutlich, und so kann der Betrachterblick den Pharaonenblick quer durch den Saal verfolgen.

Nofretete schaut sich im Museum um

Er scheint beim Ausstellungsstück der Amunpriesterin Takait zu enden, von der aus der Blickwechsel des Betrachters ziemlich genau in der Mitte stoppt, wo einem zum ersten Mal so richtig bewusst wird, das links und rechts der Tür jeweils ein bunt bemalter und ein grau steinsichtiger ägyptischer Sarkophag diese flankieren. Subtil, doch klar wird der Besucher so auf ein Kernthema der Schau gestoßen: Es geht um die jahrtausendealte Suche der Kunst nach Anmut und Schönheit auch im Hässlichen (ein anthropomorpher Sarkophag etwa ist primär ja nur eine „fleischfressende“ Totenkiste) und der Frage, was Menschen zu Individuen werden lässt.

Der Ort, an dem das am besten veranschaulicht wird, ist der griechische Saal. Auf dessen linker Seite stehen acht „Bunte Götter“ scheinbar willkürlich wie im Depot. Die großen Individuen der Kunst umfassen von den beiden Riace-Kriegern bis zur Athena den gesamten Kanon, aber gerade bei den Gipsabgüssen der Bronze-Kämpfer ist die Rekonstruktion ihrer einstigen Farbfassung wie auch ihrer Blickbeziehung und Bewaffnung zentral für die Deutung dessen, was sie überhaupt sind. So hat der Kurator Vinzenz Brinkmann sich für das Ausstellen der aktuellsten Rekonstruktion entschieden, die den einen der beiden Krieger aufgrund seines weit ausgestellten und angewinkelten Zeigefingers mit einem Pfeil und Bogen in der Linken wie auf vergleichbaren Piräus-Bronzen, einem thrakischen Pelte-Schild und zusätzlich einer Streitaxt in der Rechten vorstellt.

Vor allem aber wird in der spiegelbildlichen Gegenüberstellung der beiden deutlich, in wie wenig sie sich unterscheiden – ihre Körper sind nach demselben Modell gestaltet, nur durch Variation der Armhaltung und der Waffen werden sie zu Individuen. Genau das Quäntchen Differenz verblüfft auch beim schräg gegenüber im eiligen Laufschritt gegebenen Xantener Knaben, der in der Antike ausweislich seiner heute fehlenden Servierplatte in den ausgestreckten Händen ein serviler stummer Diener war, nun aber ein Herr wird: Mit den von der Künstlerin verliehenen Kopfhörern und dem Neunzigerjahre-Discman erscheint er nicht nur als Individuum, vielmehr wie ein Jogger mit eisernem, jedenfalls eigenem Willen.

Andy Warhol vor dem Musensarkophag

Im dritten Saal sind neun von Genzkens berühmten „Anziehpuppen“ vor dem Sarkophag mit den neun Musen in einem pseudoantiken Chorus gereiht, die statt Togen und Tuniken poppige Kleidung tragen. Doch gehen die Kleider-machen-Leute-und-Kaiser-Mannequins nicht nur auf das Altertum zurück. Genzken beruft sich mit ihren multiplen Persönlichkeitsbildern – von denen eines mit Silberperücke und Campbell’s-Suppendosen-Wams Andy Warhol ähnelt – auch auf die legendäre Dada-Schau 1938, in der Max Ernst, Dalí, Man Ray und André Masson Puppen jeweils in einer Art vestimentärer Écriture automatique immer weiter variierten. Die vier großformatigen Collagen aus dem Jahr 2016 an den Wänden ringsumher zeigen, wie intensiv sich Genzken mit der damals noch immer umkämpften Glaubensfrage einer bunten versus einer weißen „Bauhaus“-Antike auseinandersetzte.

Nicht nur ist das Titelblatt der Berliner Ausstellung der „Bunten Götter“ zu erkennen; auch die eingeklebten Schwarz-Weiß-Fotos erinnern noch einmal vehement daran, dass mit diesen streng ausgeleuchteten „grautonigen“ Antiken lediglich eine Stilgeschichte immer weiter fortzusetzen war, jedenfalls keine ikonographischen Interpretationen via Farbe und einst nur aufgemalter, längst verlorener Details. Dass die Collagen bei aller Formfülle einen Mnemosyne-Atlas Genzkens und der Antike bilden, unterstreichen die akkurat mit silbernem Gaffer-Tape, Klebestreifen und Konfettiband abgetrennten Zonen. Wie politisch aktuell sie sind, erweist sich, wenn im Zentrum einer der Collagen Caligula steht, der ideeller Stichwortgeber und Vorbild für Trump ist, und neben dem irren Kaiser wiederum ein Steinzeitmensch mit Keule zu sehen ist.

Lange schien die offensichtliche Zeitgebundenheit von Genzkens Arbeiten eine Last, da diese schwer den Geist der Achtziger- und Neunzigerjahre atmen. Wer den schrillen und häufig neonfarbigen Geschmacksverstärkern dieser Zeit kritisch gegenüberstand, hatte es mit ihren Werken schwer – die Arbeiten bleiben Exotismen. In einer viele tausend Jahre umspannenden Sammlung wie der Frankfurter fügen sie sich jedoch geradezu harmonisch ein, weil Kunst und insbesondere Hoch- und Hofkunst häufig dem Exzess frönte, und das nicht nur im Manierismus.

Der Gekreuzigte wie in Beton-Bernstein

Ein gutes Beispiel für dieses Tanzen auf dem Zeitstrahl der Idiosynkrasien sind Genzkens einbetonierte Objekte. Da die Künstlerin seit Langem in Berlin lebt, sah man die kantig-brutalistischen Betonskulpturen eher als Reprise auf Wolf Vostells einbetonierte Cadillacs, die seit West-Berliner Mauerzeiten dort am Ku’damm unübersehbar waren. Nun aber rahmt ihr Betonrahmen „Fenster“ im hochmittelalterlichen Saal den Blick auf das berühmte Kölner Kruzifix des 11. Jahrhunderts, und mit einem Mal fügt sich das armselige Material einer in den Achtzigern auch von ihr erneuerten Arte Povera zu dem demutsvoll für die Menschen gestorben Heiland, mit dessen Martyrium sich so viele Künstler identifizieren.

Auch für Genzkens wie in Bernstein-Beton eingeschlossenen „Weltempfänger“ gilt dies, nimmt er doch im Raum der Renaissance nicht nur die Position des heute fehlenden Heilands in der Mitte einer Kreuzigungsgruppe ein, nur noch flankiert von Maria und Johannes, sondern streckt auch seine Antenne aus wie die Muttergottes ihre Lilie bei der Verkündigung dem Erzengel Gabriel, empfangsbereit eben für Botschaften von höherer Warte. Ein solches liegt im großen Mittelaltersaal in Gestalt eines schutzlosen und lädierten, vielleicht sogar missbrauchten Kind nackt in einem ebenfalls derangierten Kinderwagen wie in der Krippe. Umher stehen Michel Erharts und anderer Meister geschnitzte Christusknaben, ebenfalls unbekleidet, jedoch wie mittelalterliche Anziehpuppen von den Nonnen in ihren Zellen immer wieder neu mit Selbstgeschneidertem umhüllt.

Am zwingendsten aber ist das Verpflanzen der Genzkenschen Figurenwelten bei ihrer abstrakten Stele „Kai“, im Jahr 2000 dem Maler Kai Althoff gewidmet, mit dem sie auch einen Film drehte, der gezeigt wird. Ehrlich gesagt fand man ihre kantigen Skyscraper-Stelen mit Neunziger-Spiegelfolie oft zu kühl, im Kontext der archaischen Kunst aber kann man nicht anders, als an die frühesten Menschendarstellungen der Kunst zu denken – just jene Figurenstelen, die der frühen Moderne etwa eines Brâncuși als Initialzündung ihres „Zurück in die Zukunft“ dienten. So wirft uns dieses Treffen eines Regenschirms (hier die 480 Kilogramm schwere Genzken-Beuys’sche Rose im Museumsgarten) und der Nähmaschine dieser nur scheinbar zeitgebundenen Künstlerin auf einem Seziertisch doch wieder auf die alten Fragen der Menschheit zurück.

Isa Genzken meets Liebieghaus. Liebieghaus Frankfurt; bis 31. August. Kein Katalog.

Schaltfläche "Zurück zum Anfang"