Spotify Wrapped 2025: Was der Jahresrückblick über dich aussagt – Kultur | ABC-Z

Es ist nur ein Screenshot aus einer App. Kein Nacktbild, kein Gehaltsnachweis, keine Krankenakte. Sondern nur eine Liste mit fünf Songtiteln, daneben fünf Bands oder Künstler. Und eine Zahl, eine Minutenangabe, um genau zu sein. Und doch, diesen Eindruck macht es bisweilen auf Instagram, Tiktok und Co., ist der Spotify-Jahresrückblick „Wrapped“ das vielleicht Intimste, was einige Nutzerinnen und Nutzer zu posten bereit sind. Hier ist er, der gläserne Hörer, reduziert auf das, was in den vergangenen Monaten über die Airpods direkt in den auditiven Kortex getröpfelt ist.
Zumindest ist das der Eindruck, den Spotify vermitteln will. Der Jahresrückblick des Streamingdienstes soll scheinbar ungeschönt die eigenen Hörgewohnheiten verdichten und auf fünf Songs herunterbrechen können. Doch bei einigen Hörenden scheinen die Ergebnisse nicht so ganz mit der Selbstwahrnehmung übereinzustimmen, immer wieder wird angezweifelt, wie akkurat der Spotify-Jahresrückblick das Streamingverhalten abbildet. „Hat noch jemand ein total falsches Wrapped?“, fragt ein Nutzer im Forum Reddit, sichtlich frustriert. Und viele stimmen ihm zu. Komisch, Daten lügen doch nicht. Oder?
Ein Spotify-Jahr dauert vom ersten Januar bis Mitte November
Die Genauigkeit von „Wrapped“ lässt sich eigenhändig überprüfen, Datenschutz sei Dank. Jeder kann bei Spotify (und auch bei allen anderen Streamingdiensten) Daten über das eigene Nutzungsverhalten anfordern. Nach einigen Tagen Wartezeit flattert, fein säuberlich sortiert, die gesamte Streaminghistorie ins E-Mail-Postfach. Jeder Stream eines Songs ein Datenpunkt mit vielen Informationen: Wann wurde welcher Song gehört, wie lang lief er, wurde er explizit ausgesucht und angeklickt oder als Teil einer Zufallswiedergabe vom Algorithmus ausgewählt? All diese Variablen könnten theoretisch eine Rolle im Jahresrückblick spielen. Die Süddeutsche Zeitung hat einige Auswertungen anhand von Streamingdaten verschiedener Personen nachgebaut.
Ein Spotify-Jahr dauert von Januar bis Mitte November, das hat Spotify der SZ bestätigt. Gerüchten zufolge hat das mit Wham!, Mariah Carey und der Adventszeit ganz generell zu tun, realistisch ist, dass Spotify nach Erhebungsende schlicht noch Zeit braucht, um die großen Datenmengen zu verarbeiten. Einen genauen Stichtag für „Wrapped“ nennt das Unternehmen nicht.
Die Lieblingssongs werden recht einfach ermittelt: Ein Lied zählt dann als gehört, wenn es mindestens 30 Sekunden lang lief. Der beliebteste Song ist also derjenige, den ein Nutzer bis Mitte November am häufigsten mindestens 30 Sekunden lang gehört hat – unabhängig davon, wie viel Zeit er insgesamt mit diesem Song verbracht hat. Die Datenauswertungen der SZ stimmen unter diesen Einstellungen in den meisten Fällen mit den offiziellen „Wrapped“-Ergebnissen überein.
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Bei den Lieblingskünstlerinnen und -künstlern ist das ein wenig undurchsichtiger. Wendet man auf die Interpreten die gleiche Zählmethode an wie auf die Lieblingssongs, zeigen sich Unterschiede zu den in „Wrapped“ angezeigten Ergebnissen. Laut Spotify wird zusätzlich berücksichtigt, ob ein Künstler Hauptinterpret oder „nur“ Feature ist, und außerdem eingerechnet, „wie oft ein Hörer zu einem Künstler zurückgekehrt ist“. Was das genau bedeutet und wie es ins Gewicht fällt, ist Spotifys Betriebsgeheimnis und kaum zu rekonstruieren. Es könnte etwa darum gehen, an wie vielen verschiedenen Tagen ein Nutzer Musik von einer Künstlerin gehört hat. Dann würde es weniger ins Gewicht fallen, ob jemand für kurze Zeit ein neu erschienenes Album rauf und runter hört, und stärker, ob die Person im Jahresverlauf immer wieder Musik der Künstlerin abspielt.
Oder geht es darum, ein Lied gezielt anzuklicken, statt in kuratierten Playlists oder durch den Shuffle-Algorithmus eher zufällig darauf zu stoßen? Die Süddeutsche Zeitung hat die Streamingverläufe nach diesen Faktoren gewichtet. Am Ende geht es um nicht weniger als die Frage, was einen Lieblingskünstler überhaupt ausmacht: Wie oft man ihn hört, wie bewusst man ihn hört, wie treu man ihm ist? Jede dieser Auswertungen erzielt unterschiedliche Ergebnisse. Objektiv ist sicher keine der Methoden, völlige Objektivität kann eine Datenauswertung allerdings ohnehin nicht leisten.
Im Internet kursieren Tipps, wie man die eigenen Daten kuratieren kann
Das liegt auch an dem letzten, riesigen Unsicherheitsfaktor: dem Menschen. Der streamt nicht unter Laborbedingungen. Der Algorithmus weiß nicht, welche Schallplatten man zu Hause auflegt, in welcher Situation oder aus welchen Gründen ein Song abgespielt wird. Immerhin kann man mit „Spotify Wrapped“ Selbstbild und Gruppenzugehörigkeit inszenieren und das menschliche Bedürfnis nach sozialem Vergleich ausleben. Wer digitale Gemeinschaft sucht, muss nur häufig genug „The Life of a Showgirl“ hören und kann sich am Jahresende höchst offiziell als Swiftie verbriefen lassen. Genauso kann ein chronisches Distinktionsbedürfnis damit erfüllt werden, ausschließlich obskure Indiebands abseits des Mainstreams im Jahresrückblick zu haben. Und ganz unabhängig von Genres und Künstlern eignet sich die Gesamthördauer hervorragend, um Kultiviertheit und Expertentum vorzugaukeln: Seht her, so viel wie ich hört keiner! Dass bei 100 000 Minuten – das entspricht etwa der Arbeitszeit eines Vollzeitjobs – wohl eher von Hintergrundgedudel als von bewusstem Musikgenuss auszugehen ist? Geschenkt.

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Und so versuchen Nutzerinnen und Nutzer gezielt, ihren Jahresrückblick zu beeinflussen. Im Internet kursieren Tipps, wie man die eigenen Daten kuratieren kann, damit „Spotify Wrapped“ zwar nicht zur Realität, aber immerhin zum Selbstbild passt. Der Dezember wird so zum Freibrief für alle musikalischen Sünden, er zählt ja schließlich nicht. Das restliche Jahr erfordert in dieser Logik mehr Disziplin: Von Januar bis November sollten alle „guilty pleasures“, genau wie Kindermusik und White Noise, demzufolge am besten in sogenannten privaten Sessions abgespielt werden, die fließen nicht in die Auswertung ein. Und die Königsdisziplin: Wer bestimmte Songs unbedingt in seinem Spotify-Jahresrückblick sehen möchte, dem wird dazu geraten, eine Playlist mit ebendiesen Songs anzulegen und sie dann nachts lautlos auf Dauerschleife zu spielen. Wer all das beachtet, dem ist ein makelloser Hochglanz-Jahresrückblick sicher.
Längst sind andere Anbieter auf den Jahresrückblick-Zug aufgesprungen, Deezer, Apple Music. Auch die Süddeutsche Zeitung lässt ihre Leserschaft wissen: Waren Sie 2025 eher kreative Kulturmaus oder knallharte Politik-Schwarzbrotlerin? So wird jeder Medienkonsum, jeder Kulturgenuss zum performativen Akt. Denn auch wenn nicht alle Menschen den Drang verspüren, das Ergebnis dieser Datenauswertungen mit der ganzen Welt zu teilen, so stellt man sich, konfrontiert mit den eigenen Hör- oder Lesegewohnheiten, doch die Fragen: Will ich so sein, wie das System mich sieht? Sehe ich mich auch so? Oder wäre ich lieber anders?
Vielleicht geht es auch um etwas anderes: Ein Song kann 10 000 Minuten vor sich hin dudeln und nichts bedeuten. Einen anderen hört man nur ein Mal – und das Leben ist nicht mehr dasselbe.
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