Spielen die Stars bald in Saudi-Arabien? | ABC-Z
Jedes Jahr von Mitte Dezember an ist im Norden des Londoner Stadtbezirks Haringey für gut drei Wochen die Welt eine Scheibe. Tausende pilgern täglich in die West Hall des ehrwürdigen Alexandra Palace, einen mehr als 150 Jahre alten Freizeitpark. Seit dem vergangenen Wochenende messen sich dort wieder die besten Dartspieler der Welt, um dem Vorjahressieger, dem Engländer Luke Humphries, den Titel streitig zu machen. Gemeinsam mit ihren Fans produzieren sie im „Ally Pally“ Jahr für Jahr Bilder, die im Profisport aus der Reihe fallen.
Die meisten Zuschauer sind verkleidet – als Schlümpfe, Dartsscheiben oder Teletubbies. Sie stehen aufgereiht an langen, mit Bierpitchern gedeckten Tischen und grölen sich zu DJ Bobos „Hey Baby“ die Kehle wund. Die Athleten? Heißen Johnny, Gary oder Peter, kommen aus Arbeiterstädten wie Stoke-on-Trent oder Runcorn. Sie haben kleine oder große Bierbäuche, sind meist zwischen Ende 30 und Anfang 60. Sie sehen aus wie Typen, die man in einem Pub in der englischen Provinz mit einem Pint Guinness in der Hand an der Dartscheibe erwarten würde.
Und doch sind sie Vollprofis, trainieren täglich mehrere Stunden, werden von Sponsoren vermarktet, spielen um Hunderttausende Pfund Preisgeld. Ihre Pfeile versenken sie aus mehr als zwei Meter Entfernung traumwandlerisch sicher in die acht Millimeter breiten Doppel- und Triplefelder der Dartscheibe. Wann immer der „Caller“ den höchstmöglichen Score eines Spielers verkündet – „Onehundredandeighty!“ – , eruptiert die Bierzeltatmosphäre für einen Moment. Das ist Spitzensport mit einem Hauch Ballermann und einer gesunden Portion Selbstironie. Und vielleicht ist genau dieser Gegensatz der Grund dafür, warum die Sportart in den vergangenen Jahren einen ungeahnten „Boom“ erlebt hat.
Das Finale der vergangenen Weltmeisterschaft zwischen Humphries und dem mittlerweile 17 Jahre alten Ausnahmetalent Luke Littler verfolgten auf Sky Sport UK fast fünf Millionen Menschen – es war die meistgesehene Sendung in der Geschichte des britischen Pay-TV-Senders, in der kein Fußballspiel gezeigt wurde.
Dass die Sportart ihren alljährlichen Höhepunkt um Weihnachten und Neujahr hat, wenn sich viele andere Sportarten in die Winterpause verabschiedet haben, kommt ihr zugute. Die Regeln sind zudem simpel, die Aktionsdichte ist hoch. Alle fünf Minuten wird ein Satz entschieden. Dann zeigt die Kamera nur noch die kleinen Doppelfelder, auf die die Spieler zielen. Der Zuschauer wartet gebannt auf den womöglich entscheidenden Pfeil. Und auf die Stimmungsexplosion in der Halle.
„Rasanter Zulauf in unseren Vereinen“
Die Show lockt auch in Deutschland immer mehr Menschen vor die Fernseher. Bei Sport 1 schalteten in der Spitze fast drei Millionen Zuschauer für das vergangene WM-Finale ein. Die Zuschauer beim Streamingdienst DAZN kommen noch hinzu.
Davon profitiert auch der Deutsche Dart-Verband (DDV): „Wir haben bedingt durch die Fernsehübertragungen einen rasanten Zulauf in unseren Vereinen und in den Landesverbänden“, sagt dessen Präsident Peter Sossong. Knapp 31.000 Mitglieder zählt der DDV, etwa dreimal so viel wie vor zehn Jahren – für den Verband eine Herausforderung: „Wir bauen gerade die Strukturen auf, die andere Sportverbände schon seit Jahrzehnten haben“, sagt Sossong.
Für die aktuelle WM haben sich mit sechs deutschen Spielern so viele qualifiziert wie noch nie zuvor. Sie können von ihrem Sport mittlerweile gut leben. Der im vergangenen Jahr erfolgreichste Deutsche, Gabriel Clemens, am Donnerstag in WM-Runde zwei ausgeschieden, spielte allein durch Preisgelder gut 300.000 Pfund (etwa 360.00 Euro) ein. Das weckt bei immer mehr jungen Menschen die Hoffnung, mit ihrem Hobby Geld verdienen zu können. „Wenn die mediale Präsenz weiter so steigt, werden immer mehr Spieler versuchen, an den finanziellen Topf ranzukommen“, sagt Sossong.
Die Professional Darts Corporation (PDC), die die wichtigsten und lukrativsten Turniere der Sportart organisiert, hat Deutschland als wichtigen Zielmarkt ausgemacht und macht auf ihrer Vermarktungstour mit den Stars der Szene regelmäßig hierzulande halt. Etwa ein Viertel der Tickets für die diesjährige WM wurden in den deutschsprachigen Raum verkauft. Dabei sind Eintrittskarten für den Wahnsinn im „Ally Pally“ fast so schwer zu bekommen wie für ein Taylor-Swift-Konzert. Nach 15 Minuten waren die 90.000 Karten in diesem Jahr verkauft. Er hätte wohl knapp 300.000 verkaufen können, sagte der ehemalige PDC-Chef Barry Hearn kurz darauf.
Der umtriebige Geschäftsmann ist mittlerweile Chef des Sportvermarkters Matchsport und sieht sich längst nach neuen Austragungsorten für die Darts-WM um. Und der Erfolg des Darts ist auch dem spendierfreudigsten Akteur der Sportwelt nicht entgangen: „Ich habe mit den Saudis gesprochen, und sie waren sehr begeistert“, sagte Hearn im Sommer dem „Mirror“.
Snooker- und Boxwettbewerbe hat er bereits nach Saudi-Arabien verkauft. Und bald Darts? Ausgerechnet den Sport, der alkoholisierte und feiernde Fans zum Kern seiner Marke gemacht hat? „Das Wesen des Dartsports ist, dass es eine Party ist. Saudi-Arabien ist deshalb derzeit noch nicht bereit, eine solche Weltmeisterschaft auszurichten“, sagte Hearn. „Aber es wird nicht mehr lange dauern.“ Wenn das Land sein Alkoholverbot lockern sollte. Wandel durch Annäherung also?
Mit schwarzem Tee und Mineralwasser, sagt Sossong, könne man jedenfalls nicht die Stimmung produzieren, die im „Ally Pally“ herrscht. Der DDV-Präsident sieht es aber nüchtern: „Die Leute gehen dahin, wo das meiste Geld ist.“