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Trump, Nawrocki, AfD: Der Aufstieg der Unseriösen | ABC-Z

Es fehlt nicht an publizistischen Versuchen, die Gegenwart auf einen Nenner zu bringen. Die einen sehen in der Unübersichtlichkeit das Signum unserer Zeit, andere in der Ambiguität, wieder andere in der Verlusterfahrung. Was bisher weithin unberücksichtigt geblieben ist: die Unseriosität.

Dass der zuletzt zum polnischen Präsidenten gewählte Karol Nawrocki eine schillernde Vergangenheit unter anderem in der Hooligan-Szene haben soll, hielt die polnische Wählerschaft, zumal die fromme und eher biedere auf dem Land, nicht nur nicht davon ab, ihm mehrheitlich die Stimme zu geben, sondern bestärkte sie womöglich darin. Diese These mag aus der Hüfte geschossen und damit selbst unseriös sein, allzu kühn ist sie nicht.

Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.



Es gibt jedenfalls viele weitere Beispiele, die sie stützen. Zuvorderst Donald Trump, der alle erdenklichen Spielarten des Unseriösen inkorporiert. Nicht nur, dass er aussieht wie ein Boxpromoter, er macht auch entsprechend Politik. Man denke nur an die von ihm zur Bildungsministerin gemachte einstige Wrestling-Unternehmerin, die ihr eigenes Ressort mit einem Elbow Slam plattmachen soll.

Fußkettchenhaftigkeit

Oft ist das Unseriöse in der Politik eher harmlos bis anziehend. In dieser Ausprägung umfasst es einen weiten Personenkreis, der von Oldies wie Wolfgang Kubicki, Rezzo Schlauch oder Sigmar Gabriel über Hotties wie Wolfram Weimer oder Caroline Bosbach bis hin zur CSU und den Charity Ladies reicht, die Kusshände auf die Bühne werfen, wenn Politiker dort Sachen rufen wie: „Wer viel leistet, der soll auch viel haben!“

Trägt sie am Ende ein Fußkettchen? Bundestagspräsidentin Julia Klöckner (CDU)
Trägt sie am Ende ein Fußkettchen? Bundestagspräsidentin Julia Klöckner (CDU)AFP

Was verbindet diese Leute, zu denen manche (umstrittenerweise!) sogar Julia Klöckner hinzuzählen? Es gibt Anhaltspunkte: Fußkettchen, die Bevorzugung des Spontanistischen gegenüber dem Systematischen, Einstecktücher, ein Hang zu Hybris, Hedonismus und Körperlichkeit, außerdem die Überzeugung, dass es sich aus moralischen Gründen nicht nur nicht verbietet, über Investments in die ukrainische Venture-Capital-Szene nachzudenken, sondern dass das zur Verteidigung unserer westlichen Werte sogar essenziell ist.

Allen, die sich jetzt zu Recht fragen: Wer von den genannten Persönlichkeiten trägt bitte schön Fußkettchen?, sei gesagt: Man kann eine gewisse Fußkettchenhaftigkeit ausstrahlen, ohne je ein Fußkettchen getragen zu haben. Im Grunde ist es mit der Unseriosität wie mit der Liebe. Sie lässt sich schwer definieren, aber wenn sie im Raum ist, spürt man sie sofort – und sei es nur, weil sich alle nach ihr ausrichten wie die Büroklammern nach einem Magneten oder CSU-Minister nach Markus Söder.

Begabter Vertreter des Fachs „Unseriosität“: Der frühere britische Premierminister Boris Johnson
Begabter Vertreter des Fachs „Unseriosität“: Der frühere britische Premierminister Boris Johnsondpa

Neu ist das allerdings nicht. Boris Johnson, selbst ein herausragender Vertreter des hier behandelten Fachs, schrieb etwa über Winston Churchill: „Seine ganze Karriere hindurch wurde er nicht nur für unseriös gehalten, sondern von Natur aus unseriös.“ Was also ist so attraktiv an dieser Seinsweise, dass sie sogar Jahrhundertpolitiker gebiert? Ganz anders gefragt: Warum arbeiten viele junge Männer in Berlin lieber als Kokskurier, statt einen Ausbildungsberuf zu ergreifen? Warum wollen junge Frauen lieber Nailart-Influencerinnen werden statt Bäckerinnen? Und warum gibt es, etwa in München, so viele hochintelligente Leute, die, statt als Arzt oder Lehrer zu arbeiten, von Beruf „bestens vernetzt“ sind, ohne dass man genau sagen könnte, warum und wofür? Als Antwort sei hier vage an eine Stelle aus David Graebers Buch „Bullshit Jobs“ erinnert, in dem ein Zirkushelfer, der den Dung der Elefanten wegzukehren hat, erklärt, wo er arbeitet: im Showgeschäft.

Ein weiterer hingeworfener Gedanke: Wem die soziale Mobilität in der Welt zu gering ist, der verlegt sich halt auf die Halbwelt. Wo sonst wäre für ein Arbeiterkind ohne Abschluss schneller ein Audi R8 zu bekommen? Neuerdings nur in der Politik. Vom Delinquenten zum Präsidenten. In dieser Abart ist der amerikanische Traum ja lebendiger denn je. Oder eben der polnische. Nawrocki Balboa. Könnte man den ehemaligen Boxer und Türsteher nicht auch hierzulande einfach mal als unbürokratischen Macher sehen, der – anders als viele Grüne und Linke! – Erfahrungen in der Wirtschaft gesammelt hat? Im Übrigen sind sonst unter deutschen Eliten die Vorbehalte gegen Hooligans ja auch nicht so groß, was man immer dann merkt, wenn von CEOs die jüngste „Choreo“ der Eintracht-Fans gerühmt wird.

Von der vielleicht unseriösesten Partei überhaupt war bisher noch gar nicht die Rede. Auch dort gibt es ehemalige Hooligans sowie im Übermaß Leute, die man eher als mittellose Barpianisten in verlassenen Goldgräberstädten denn als Abgeordnete im Bundestag vermutet hätte. Nicht uninteressant, sicher. Andererseits sollte die Geschichte hinreichend klargemacht haben, was dabei herauskommt, wenn man das Land verkrachten Bohemiens, Junkies und gescheiterten Postkartenmalern anvertraut.

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