Brief aus Istanbul: Meldungen über Vergiftungen aus der ganzen Türkei | ABC-Z

Stellen Sie sich vor, Sie betreten irgendwo im Ausland einen Discounter, und zwar die Filiale einer bekannten deutschen Kette. Es ist früh am Morgen, die Regale sind prall gefüllt mit diversen Obstsorten, Getränken, Reinigungsmitteln. Die Kühlschränke lassen Sie im Vorübergehen vor Kälte schaudern, darin stapeln sich die Produkte: Schweinefleisch, Hähnchen, Fisch. Doch was ist das? Das Fach, in dem sich normalerweise Kalbfleisch befindet, ist zu dieser frühen Stunde bereits restlos geplündert.
Nun wissen Sie, wo Sie sich befinden: im griechischen Alexandroupolis, drei Autostunden von Istanbul entfernt, in der dortigen Lidl-Filiale, die der türkischen Grenze am nächsten liegt. Auf dem Parkplatz vor dem Discounter vermeint man allerdings, die Grenze gar nicht überquert zu haben. Denn wie auf etlichen Straßen der griechischen Hafenstadt drängeln sich auch auf dem Parkplatz Autos mit türkischen Kennzeichen. Wer kein Auto hat, reist für eine Tagestour mit dem Charterbus zum Preis von 35 Euro für die Fahrt zum Einkaufen an. Bei der Rückreise in die Türkei steht man am Wochenende am Grenzübergang schon mal acht Stunden in der Schlange. Warum strömen trotzdem türkische Bürger zu Tausenden nach Alexandroupolis?
Während Kalbfleisch in der Türkei umgerechnet 16 Euro pro Kilo kostet, bekommt man es hier für sechs bis sieben Euro. Doch das ist nicht der einzige Grund. Es ist nicht zuletzt die Sehnsucht der Menschen aus der Mittelschicht, die es einmal in der Türkei gab, nach all den Dingen, die früher normal für sie waren: Lebensmittel für eine gesunde Ernährung, Besuche guter Restaurants, ohne sich Gedanken über die Rechnung zu machen. Vor allem aber, um in Erinnerungen an die guten Zeiten zu schwelgen, nehmen Zigtausende die stundenlange Fahrt auf sich. Das konnten meine Frau und ich vorletzte Woche selbst beobachten.
Schulden machen, um zu überleben
Noch vor fünf, sechs Jahren war es umgekehrt: in grenznahen Orten der Türkei reihten sich griechische Wagen aneinander. Damals kamen unsere Nachbarn über das Wochenende zu uns, weil es hier günstiger war. Doch aufgrund von Erdoğans Wirtschaftspolitik wuchs die Armut in der Türkei dramatisch, und das Tableau hat sich ins Gegenteil verkehrt. Der Durchschnittsverdienst bei uns beträgt lediglich ein Viertel von dem in Deutschland, dennoch ist es für uns günstiger, in der Eurozone einzukaufen. Denn bei uns haben sich die Preise exorbitant erhöht. Um Sie nicht mit Zahlen zu quälen, soll hier das Beispiel Fleisch genügen: In den letzten vier Jahren sind die Fleischpreise in der Türkei um 824 Prozent gestiegen, im weltweiten Durchschnitt hingegen nur um 24 Prozent.
Aufgrund der astronomischen Preissteigerung ist Fleisch hierzulande mittlerweile Luxus. Das spiegeln auch internationale Statistiken wider. Laut einem Bericht des UN-Portals World Population Review ist der Pro-Kopf-Verzehr von Fleisch in der Türkei unter den in vielen afrikanischen Staaten gesunken. In der Türkei wird weniger Fleisch gegessen als etwa in Simbabwe oder Kongo, in der Ukraine, die sich seit dreieinhalb Jahren im Kriegszustand befindet, und sogar in Syrien nach zehn Jahren Bürgerkrieg. Da wir uns gesunde Proteine nicht mehr leisten können, hat die ganze Nation sich Kohlenhydraten zugewendet, die günstiger zu haben sind. Der genannte Report weist aus, dass die Türkei beim Konsum von Weizen erstmals unter die ersten zehn aufgerückt ist. „Das Schlimmste haben wir hinter uns“, wiederholt Wirtschaftsminister Mehmet Şimşek beinahe monatlich, doch daran glaubt längst niemand mehr. Wie sollten wir auch, wo wir doch ständig neue Schulden aufnehmen müssen, um auch nur ein einfaches Leben führen zu können. Siebzig Prozent der Bevölkerung sind verschuldet. 38 Prozent verschulden sich, um die Grundbedürfnisse zu decken, sprich, um zu überleben. Unter diesen Umständen greifen Konsumenten wie auch Produzenten jeweils zum Billigsten und damit zum nicht gerade Gesunden.
Arbeit unter prekären Bedingungen
Kommt zur steigenden Inflation der Nahrungsmittelpreise noch ein Mangel an Kontrolle hinzu, häufen sich die Fälle von Lebensmittelvergiftungen. Kürzlich kam eine vierköpfige deutsche Familie türkischer Herkunft durch Schädlingsbekämpfungsmittel in ihrem Istanbuler Hotel ums Leben. Bis die Todesursache feststand, wurde geprüft, was sie in Istanbul verzehrt hatten. Alles erwies sich als nicht mehr frisch oder verdorben. Hier sind Schlagzeilen zu einigen Vergiftungsfällen dieser Tage im ganzen Land: „28 Studenten in Karabük durch Döner vergiftet“, „94 Personen bei religiöser Feier in Rize durch Hühnerfleisch vergiftet“, „Elf Landarbeiter in Bursa nach Verzehr von Hühner-Pilaw vergiftet“, „80 Schüler in Kayseri im Krankenhaus, nachdem sie in der Schule Knoblauchwurst gegessen hatten“, „In Samsun kamen fünf Schüler ins Krankenhaus, weil ihnen nach dem Verzehr von Hamburgern schlecht wurde“.
Ich möchte Ihnen nicht die Laune verderben, doch es gibt weitere Vorfälle mit Todesfolge aufgrund der Wirtschaftspolitik des Palastregimes. Schlechte Lebensmittel sind nur eine Seite davon. Weil es so schwierig geworden ist, Brot auf den Tisch zu bringen, und die Arbeitsgelegenheiten fehlen, um das zu beheben, sind wir zu einem Land vermeidbarer Todesfälle geworden. Hier nur einige aus dem Monat November: In der Industriestadt Kocaeli, eine Stunde von Istanbul entfernt, kamen vier Frauen und zwei junge Mädchen bei einer Explosion ums Leben. Sie hatten für ihren Lebensunterhalt in einer illegalen Parfüm-Manufaktur ohne Schutz und ohne Sicherheitsvorkehrungen am Arbeitsplatz schuften müssen. Ob jung oder alt, alle müssen arbeiten, um zum Auskommen der Familie beizutragen. Und sei es unter prekären Umständen.
Mehr Dollarmillionäre als in den Vereinigten Arabischen Emiraten
Bei einem Erdrutsch in einem Steinbruch in Anatolien kam ein 75-jähriger Arbeiter ums Leben. Obwohl längst im Rentenalter, war er gezwungen gewesen, im Bergwerk zu arbeiten. Zur selben Zeit kamen drei noch nicht volljährige Studenten bei der Arbeit als Tagelöhner auf einer Baustelle um. Allein in den ersten elf Monaten 2025 starben bei ähnlichen Arbeitsunfällen mehr als 80 Minderjährige. Diese Hinweise sollten reichen. Erdoğan war einst mit den Stimmen der Unter- und Mittelschicht an die Macht gekommen, statt der Einkommensungleichheit schaffte er allerdings die Mittelschicht als solche ab.
Die Armut trifft die meisten von uns gleichermaßen. Unter den geschilderten schwierigen Umständen gelang es nur einer kleinen Minderheit, ihren Reichtum zu vermehren, dem Palastregime sei Dank. Laut Vermögensbericht der Schweizer UBS-Bank ist die Türkei das Land, in dem sich die Zahl der Dollarmillionäre am stärksten erhöht hat. Unter den 85 Millionen Einwohnern der Türkei gibt es nunmehr 236.363 Dollarmillionäre. Möchten Sie wissen, wen wir damit im Ranking der Dollarmillionäre überholt haben? Die Vereinigten Arabischen Emirate mit ihrem Öl- und Erdgasreichtum.
Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe.





















