So wirksam ist Esketamin-Nasenspray zur Behandlung von schweren Depressionen | ABC-Z
An Simone stimmte einfach alles. Sie war schön, klug und liebevoll. Ein Sonnenschein, jeder mochte sie auf Anhieb. Für Jakob Prengel war sie die Liebe seines Lebens. Aus erster Ehe hatte er zwei Kinder, sie eines. Beide heirateten, bekamen einen gemeinsamen Sohn. Das Glück schien perfekt. Bis Simone 2008 an Brustkrebs erkrankte.
„Das stürzte mich in eine tiefe Lebenskrise“, erzählt der Sachbearbeiter aus Berlin. „Ich hatte große Angst, sie zu verlieren. Diese Angst bestimmte irgendwann mein ganzes Leben. Ich traute mich nicht mehr, aus dem Haus zu gehen, war antriebslos, konnte mich nicht mehr richtig auf meine Arbeit konzentrieren und befürchtete, im Job nicht mehr zu genügen.“
Seine Frau überredete ihn, sich untersuchen zu lassen. 2011 bekam Johann Prengel die Diagnose Depression, wurde sechs Wochen lang stationär behandelt. Es war der Beginn eines langen Leidenswegs. Anschließend begab er sich in die tagesklinische Behandlung in der Fliedner Klinik Berlin, einem deutschlandweit renommierten Zentrum für Betroffene mit depressiven Erkrankungen. Mehrere tagesklinische Aufenthalte folgten, in der Fliedner Klinik und in der Charité.
Danach ging es ihm jedes Mal wieder eine Zeit lang gut. Dann setzte die nächste depressive Phase ein. Seine Stimmung war so gedrückt, dass er sich wieder in Therapie begeben musste. „Als meine Frau 2014 starb, ging es mir natürlich sehr schlecht“, sagt der heute 59-Jährige. „Aber der absolute Tiefpunkt kam erst kurz nach Weihnachten 2022, zum Jahreswechsel. Ein paar Monate vorher hatte ich mich körperlich und seelisch noch so gut gefühlt, dass ich dachte, endlich ginge es bergauf. Dann zog ich mir eine schwere Grippe zu, war völlig ausgelaugt und kraftlos und fragte mich, was das alles noch sollte. Ich sah keinen Sinn mehr in meinem Leben. Obwohl ich Antidepressiva nahm, bestimmte die Farbe Schwarz mein Leben.“
„Ich hoffte einfach, dass es bei mir wirkt“
Während eines erneuten tagesklinischen Aufenthaltes in der Fliedner Klinik Berlin erfuhr er von einem anderen Patienten, der zusätzlich zu einem Antidepressivum mit einem Esketamin-Nasenspray behandelt worden war. Es hatte seinem Mitpatienten nicht geholfen. Johann Prengel wollte es trotzdem ausprobieren: „Ich hoffte einfach, dass es bei mir wirkt.“
Solche Fälle begegnen Professor Mazda Adli jeden Tag. Er ist Chefarzt der Fliedner Klinik Berlin und Leiter des Forschungsbereichs Affektive Störungen der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Charité. Seit 27 Jahren beschäftigt sich der Psychiater mit diesem Thema, hat Tausende Patienten behandelt. Depressionen sind weit verbreitet. Der Deutschen Depressionsliga zufolge sind über fünf Millionen Menschen in Deutschland daran erkrankt.
Zur Behandlung von Depressionen stehen unterschiedliche Therapien zur Verfügung
„Meist ist eine Depression nicht auf eine einzelne Ursache oder einen einzigen Auslöser zurückzuführen“, erklärt der Medizinprofessor. „Vielmehr entwickelt sie sich aus einem Zusammenspiel unterschiedlicher Einflüsse. Es gibt einerseits biologische Faktoren, die zu einer Veranlagung, also einem erhöhten Risiko, depressiv zu erkranken, führen. Hinzu kommen meist aktuelle Auslöser, die bei Menschen mit dieser Veranlagung das Auftreten einer Depression bewirken können.“ Diese verläuft in Phasen, die einmalig oder wiederholt auftreten können.
Abhängig vom Schweregrad der Depression stehen unterschiedliche Behandlungsmöglichkeiten zur Verfügung, die zum Teil auch kombiniert werden. Dazu zählen psychotherapeutische Verfahren wie zum Beispiel die Verhaltenstherapie sowie die medikamentöse Behandlung mit Antidepressiva. Oft kommen noch weitere Angebote hinzu wie Bewegungs- und Sporttherapie, Entspannungsverfahren, Kunst- oder Musiktherapie, die zur Verbesserung der Symptomatik, der Alltagsbewältigung und der Lebensqualität beitragen können.
Rund 30 Prozent der Betroffenen finden keine Linderung durch Medikamente
Allerdings finden bis zu 30 Prozent aller Menschen, die von schweren Depressionen betroffen sind, trotz medikamentöser Behandlung keine Linderung. Sie sprechen wie Jakob Prengel nicht auf eine konventionelle Therapie mit Antidepressiva an. Therapieresistente Depression heißt das in der Fachsprache. „Der Begriff ist allerdings irreführend“, erklärt Adli. „Es bedeutet vor allem, dass es sich um eine hartnäckige Depression handelt. Diese verläuft komplizierter, und es dauert länger, sie zu behandeln.“
Für diese Betroffenen steht seit dem Jahr 2021 jenes Nasenspray zur Verfügung, das Esketamin enthält. Esketamin ist eine Form von Ketamin, das seit Langem als Narkosemittel verwendet wird und als Partydroge „Special K“ bekannt ist. „Esketamin entfaltet eine Wirkung über glutamatabhängige Wege im Hirnstoffwechsel“, erklärt der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie. „Es blockiert den sogenannten NMDA-Rezeptor im Gehirn, setzt dort vorübergehend mehr Glutamat frei und regt vermutlich auf diese Weise neuroplastische Effekte an: Bestimmte Verbindungen und Netzwerke im Gehirn, die aufgrund der Depression gestört wurden, erneuern sich beziehungsweise verknüpfen sich wieder.“ In Deutschland wird Esketamin als Nasenspray für die kurzfristige Notfallbehandlung schwerer Depressionen und die Behandlung therapieresistenter Depressionen eingesetzt.
Studien zeigen gute Werte
Eine im Herbst vergangenen Jahres im Fachjournal „New England Journal of Medicine“ veröffentlichte internationale Studie mit 700 Teilnehmern, die in Zusammenarbeit mit dem Universitätsklinikum Frankfurt durchgeführt wurde, bestätigte, dass das Nasenspray zusammen mit anderen Medikamenten auch in besonders schweren Fällen wirken kann. Verglichen wurde zum einen die Kombination von Esketamin mit Serotonin beziehungsweise Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmern, zum anderen die Gabe von beiden Medikamenten zusammen mit Quetiapin, einem Antipsychotikum. Letztere Kombination wird in der Nationalen Versorgungsleitlinie für unipolare Depressionen empfohlen.
Bei 27,1 Prozent der Patienten, die auch das Spray erhielten, bildete sich die Depression binnen acht Wochen zurück. In der anderen Studiengruppe lag die sogenannte Remission, also die Verbesserung der Krankheitssymptome, nur bei 17,6 Prozent. „In der Gruppe, die Esketamin-Nasenspray erhalten hat, waren in der achten Behandlungswoche 54 Prozent mehr Patientinnen und Patienten in Remission als in der Gruppe, die Quetiapin-Retardtabletten erhalten hat. Das ist für eine Gruppe mit einer behandlungsresistenten Depression, also schlechten Prognose, ein guter Wert“, erklärt Professor Andreas Reif, Erstautor der Publikation und Direktor der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie am Universitätsklinikum Frankfurt. „Auch bei der Rückfallquote, die wir nach sechs Monaten kontrolliert haben, konnten die mit Esketamin behandelten Patienten diesen Vorsprung gegenüber den mit Quetiapin behandelten Personen beibehalten.“
Nicht jeder Patient spricht auf die Behandlung an
Ist das Esketamin-Nasenspray ein Gamechanger, also die Lösung bei therapieresistenten Depressionen? „Für manche Patienten ist Esketamin tatsächlich ein Gamechanger, und als erster Wirkstoff mit einem neuen Wirkmechanismus leitet es eine neue Ära in der Depressionsbehandlung ein“, sagt Reif. „Aber es gibt immer noch etliche Patienten, denen auch Esketamin nicht hilft. Wir brauchen also dringend mehr Forschung und neue Medikamente.“
Adli findet, dass es schwer zu sagen ist, ob Esketamin solch einen großen Einfluss auf die Behandlung hat: „Es ist auf jeden Fall ein Medikament, das uns neue Möglichkeiten bringt und mit dem man hartnäckige Depressionen wirksam behandeln kann. Für viele Patienten ist es eine Lösung. Es gibt allerdings auch Patienten, die darauf nicht ansprechen.“
Madeleine Schmidt, die wie Jakob Prengel eigentlich anders heißt, hatte Glück. Gleich im März 2021 bekam sie als erste Patientin der Fliedner Klinik Berlin das neue Esketamin-Nasenspray. Auch hinter ihr liegt ein langer Leidensweg. „Ich bin ein Vollprofi in Sachen Depression“, sagt die heute 64-jährige Berlinerin. Schon mit 13 erkrankte sie, unternahm zwei Jahre später einen Suizidversuch. Damals war ihre Mutter alleinerziehend, hatte kaum Geld, die drei Kinder durchzubringen. Der manisch-depressive Großvater terrorisierte die Familie, stand morgens gerne brüllend vor der Haustür, drohte sogar, ihre geliebte Katze umzubringen. „Meine Kindheit war furchtbar“, erinnert sich Schmidt.
Das Nasenspray wird mit anderen Antidepressiva kombiniert
Trotzdem schaffte sie ihr Abitur und studierte Tiermedizin. „Bis ich 28 Jahre alt war, nahm ich Antidepressiva“, erzählt sie. „Dann war plötzlich alles gut. Es war wie eine Wunderheilung. Ich brauchte keine Medikamente mehr.“ Dieser Zustand dauerte zwanzig Jahre an. Dann, mit Beginn der Wechseljahre, kehrte die Depression mit voller Wucht zurück. „Von einem Tag auf den anderen fühlte ich mich wie ausgeknipst“, erzählt sie. „Plötzlich hatte ich an nichts mehr Freude, war völlig antriebslos. Ich lag den ganzen Tag im Bett, starrte die Wand an und dachte von morgens bis abends daran, mir das Leben zu nehmen.“ Sie erhielt jetzt wieder Antidepressiva. Zunächst wirkten diese auch, aber der Effekt verlor sich nach einer gewissen Zeit.
In den darauffolgenden Jahren folgten ihre Depressionen einem festen Rhythmus: Jeden Sommer fühlte sie sich so gut und unbeschwert, dass sie die Medikamente absetzen konnte; im Herbst begann die nächste depressive Episode. Sie erhielt immer wieder neue Medikamente, um sich in den dunklen Wintermonaten nicht in schwarzen Gedanken zu verlieren.
Zehn Jahre ging das so. Dann jagte ein Schicksalsschlag den nächsten. „Das war einfach zu viel“, sagt sie. „Angst und Panikattacken bestimmten mein Leben.“ Drei Jahre lang probierte sie vergeblich verschiedene Antidepressiva aus. 2021 konnte sie nicht mehr. Sechs Wochen verbrachte sie in der geschlossenen Psychiatrie. Bei der anschließenden tagesklinischen Behandlung in der Fliedner Klinik Berlin erhielt sie das neue Esketamin-Nasenspray.
Das Nasenspray wird immer in Kombination verabreicht
Dieses wird immer in Kombination mit einem weiteren Antidepressivum verabreicht. Voraussetzung ist, dass die Patienten auf zwei unterschiedliche antidepressive Therapien nicht angesprochen haben. Im ersten Monat nehmen die Patienten es zweimal wöchentlich in einer Arztpraxis oder Klinik unter ärztlicher Aufsicht. Im zweiten Monat einmal pro Woche. Danach entweder einmal wöchentlich oder vierzehntägig. Die Verabreichung erfolgt immer unter ärztlicher Aufsicht. Im Gegensatz zu Tabletten wirkt das Nasenspray sehr schnell: Die Beschwerden können sich unmittelbar nach Beginn der Esketamin-Therapie verbessern. Der schnelle Effekt lässt sich aber nicht immer beobachten: Es kann mitunter auch mehrere Wochen dauern.
Bevor es losging, wurde Schmidts Blutdruck kontrolliert. Da dieser während der Behandlung ansteigen und es auch zu anderen Nebenwirkungen wie Schwindel, Übelkeit, Dissoziationen oder Halluzinationen kommen kann, sollte sie sich entspannt hinlegen. „Das Spray verabreichte ich mir dann selbst, rechts und links jeweils einen Sprühstoß in die Nase“, erzählt sie. „Die erste Behandlung musste ich nach nur zwei Sprühstößen abbrechen, denn ich bekam taube Lippen und verspürte starken Harndrang. Anschließend konnte ich nur mithilfe einer Krankenschwester laufen.“
„Es war wie ein Rausch“
Erst bei der zweiten Sitzung entfaltete das Esketamin seine volle Wirkung. „Es war wie ein Rausch“, erzählt sie. „Ich bekam Halluzinationen, flog auf einem goldenen Teppich über den Bahnhof Zoo.“ Eine Stunde nach der Behandlung ließ die Wirkung nach. „Es ging mir keinen Deut besser.“ Erst nach sechs Wochen setzte der erhoffte Effekt ein: Binnen eines Tages verschwand ihre Depression. „Es war unglaublich, ich fühlte mich wie neugeboren“, erzählt sie. Nach einer weiteren sechswöchigen Behandlung im Sommer desselben Jahres ging es ihr ein Jahr lang gut. „Für mich ist das ein langer Zeitraum und großer Erfolg“, sagt sie, „obwohl die Depression danach leider wieder zurückkam.“
Für Johann Prengel lief es besser. Er wurde im Mai vergangenen Jahres sechs Wochen lang mit dem Nasenspray behandelt. „Jedes Mal breitete sich ein warmes Gefühl in mir aus, die Welt wurde wieder hell, ich hatte schöne Träume, dachte manchmal auch an meine verstorbene Frau“, erzählt er. Kurz nach der Behandlung war auch bei ihm der Effekt verschwunden. Alles fühlte sich wie zuvor an. Bis zu seiner letzten Sitzung im Juli 2023. „Plötzlich hatte ich das Gefühl, ein Schalter in meinem Kopf würde sich umlegen“, erinnert er sich. „Ich wusste: Jetzt ist die Depression vorbei.“ Seitdem überkommen ihn trübe Gedanken nur noch an einzelnen Tagen.