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Rassismus in München: Beratungsstelle verzeichnet dramatischen Anstieg der Fälle – München | ABC-Z

Die Zahlen sind „alarmierend hoch“, der Unterstützungsbedarf für die Opfer rechter Gewalt und zumeist rassistisch motivierter Diskriminierung „geht durch die Decke“. Das berichtet die Münchner Beratungsstelle „Before“, die am Dienstag ihren aktuellen Bericht veröffentlicht hat. Die Fakten sind erschreckend: Im Jahr 2024 hat die von der Stadt geförderte Einrichtung in 465 Beratungsfällen fast 700 Betroffene unterstützt. Das ist ein Anstieg gegenüber dem Vorjahr um mehr als 20 Prozent.

Was die Before-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter, vor allem aber die von ihnen betreuten Münchnerinnen und Münchner tagtäglich erleben, ist inzwischen weit mehr als nur ein Warnsignal. Es zeige, wie sehr rechte und rassistische Hetze in der Mitte der Gesellschaft angekommen seien, sagt Before-Vorsitzender Siegfried Benker. Die Folgen sind dramatisch: „Menschen, die zu uns in die Beratung kommen, fühlen sich nicht mehr als gleichwertiger Teil der Stadtgesellschaft.“

Die Täter und die Verantwortlichen für Diskriminierung haben damit bereits ein Ziel erreicht. Ausgrenzung sei für die Betroffenen nicht mehr nur ein abstrakter Begriff – sie bedeute konkrete Angriffe. Am Arbeitsplatz, in der Schule, im Wohnumfeld, auf der Straße, mitten in München. Immer öfter würden Drohungen und Beleidigungen direkt mit AfD-Propaganda verknüpft, werde Selbstjustiz angekündigt mit dem Ziel, Menschen massenhaft aus Deutschland zu vertreiben. Opferberater Matthias Schmidt-Sembdner betont: „Das sind keine Zufälle. Dahinter stecken klare Botschaften.“

Der Appell der Experten: Mit „falschem Verständnis“ für migrations- und queerfeindliche Positionen müsse Schluss sein. Weder der Spaltung der Gesellschaft noch dem schwindenden Sicherheitsgefühl von Menschen könne man so begegnen. Im Gegenteil: Ausgrenzung befördere die Spaltung, Betroffene fühlten sich immer unsicherer, wenn „Aussagen, die bis dahin unsagbar, und Vorfälle, die undenkbar waren, nun Realität werden“, sagt Beraterin Lea Tesfaye.

Sie und die anderen Antidiskriminierungsexperten von Before berieten im vergangenen Jahr 348 Ratsuchende, etwa 70 mehr als 2023 – darunter 84 Kinder und Jugendliche. Sie gerieten dabei an die Grenzen ihrer Kapazitäten. Viermal musste die Antidiskriminierungsberatung im Jahr 2024 deshalb einen Fallannahmestopp verhängen. „Wir stehen mit dem Rücken zur Wand“, sagt Geschäftsführer Benker, der bei der Stadt deshalb die Mittel für zwei zusätzliche Stellen bei Before beantragt hat. Denn auch durch die im Februar vereinbarte Kooperation mit der Polizei werde der Beratungsbedarf weiter steigen.

Betroffene stießen zusammen mit ihren Beraterinnen und Beratern aber auch immer wieder an gesetzliche Hürden. Die im Februar abgewählte Ampel-Koalition hatte zwar versprochen: „Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) werden wir evaluieren, Schutzlücken schließen, den Rechtsschutz verbessern und den Anwendungsbereich ausweiten.“ Es blieb indes bei der Absichtserklärung. Die jetzige Regierung hat Ähnliches angekündigt.

Gemeinsam mit etwa hundert weiteren Organisationen fordert Before München deshalb, den rechtlichen Schutz vor Diskriminierungen zu stärken. Denn: Man merke das in der täglichen Arbeit, sagt eine der Beraterinnen. Oft lande man an einem Punkt, an dem es nicht mehr weitergehe. Was das für Betroffene bedeutet, illustriert der Fall von Jianyi Lue, einem 25 Jahre jungen Mann chinesischer Herkunft.

Obwohl er längst deutscher Staatsbürger ist, hätten Diskriminierungserfahrungen seinen ursprünglichen Berufswunsch, Rechtspfleger im Justizdienst zu werden, platzen lassen, berichtet Lue. Er hat inzwischen Hochschule und Studienfach gewechselt und ist umgezogen. Immer wieder, so berichtet er, sei an seinem ursprünglichen Studienort auf seine asiatische Herkunft mit Begriffen wie „exotisch“ angespielt worden, auch von Dozenten.

In einer Vorlesung, die Lue online verfolgte, sei die Insolvenz eines fiktiven Start-ups zweier Chinesen besprochen worden. In einer Strafrecht-Klausur habe er bei demselben Dozenten einen Fall bearbeiten müssen, der deutliche Parallelen zu realen rechtlichen Problemen einer Familienangehörigen des jungen Mannes aufgewiesen habe. „Das waren ein bisschen viele Zufälle“, sagt Lue heute. Doch er habe gar nicht gewusst, an wen er eine Beschwerde richten sollte.

Erst als der junge Mann Before einschaltete, räumte die Hochschule schließlich ein: „Es liegt eine Benachteiligung vor.“ Aber der mehr als drei Jahre währende Kampf gegen übergriffiges Verhalten, Abwertung und Diskriminierung hatte den Studenten zermürbt. Seine Noten wurden immer schlechter, er wurde psychisch krank, hatte Panikattacken. Schließlich gab er auf.

Der Neuanfang ist gelungen. Jianyi Lue studiert mittlerweile Betriebswirtschaft und Recht in Aschaffenburg. Die Diskriminierungserfahrungen versucht er hinter sich zu lassen.
Der Neuanfang ist gelungen. Jianyi Lue studiert mittlerweile Betriebswirtschaft und Recht in Aschaffenburg. Die Diskriminierungserfahrungen versucht er hinter sich zu lassen. (Foto: privat)

Doch er wagte einen Neuanfang. Er wolle Betroffene mit seiner Geschichte auch ermutigen, trotz Rückschlägen an ihren Zielen festzuhalten, betont der Student. „Obwohl ich mein erstes Studium zum Diplom-Rechtspfleger aufgrund der damaligen Vorkommnisse abbrechen musste“, sagt Lue zwei Jahre später, „habe ich einen neuen Weg gefunden und studiere nun erfolgreich in einem anderen juristischen Bereich an der Technischen Hochschule Aschaffenburg“.

Der Fall mache die Schwächen und Lücken der geltenden gesetzlichen Regelungen deutlich, erläutert eine Before-Beraterin. Für staatliches Handeln – etwa in Bildungseinrichtungen – sei das AGG normalerweise nicht anwendbar. Lue absolvierte ein duales Studium beim öffentlichen Dienst. Für seinen Fall hätte das Gesetz also gegolten. Durchsetzen konnte er es gleichwohl nicht. Ein Problem sei, dass Verbände, die sich für Betroffene einsetzen, kein Klagerecht hätten, moniert Before. Betroffene sähen sich zunehmend aggressiven Reaktionen seitens der Verantwortlichen für mutmaßliche Diskriminierungen ausgesetzt. Das reiche im Extremfall bis zur Verleumdungsklage – und dem Versuch, mit einer juristischen Unterlassungsforderung Before daran zu hindern, einen Betroffenen zu unterstützen. „So etwas hatte ich in fünf Jahren Beratungstätigkeit noch nicht erlebt“, sagt Lea Tesfaye.

Auch Opferberater Schmidt-Sembdner erlebt in seinem Bereich, wie das Sicherheitsgefühl von Opfern rechter Übergriffe und ihr Vertrauen in die Gesellschaft erodieren. 221 Fälle rechter, gruppenbezogen menschenfeindlicher Gewalt landeten 2024 bei Before. Etwa der einer Frau mit asiatischen Gesichtszügen, die an einem Geldautomaten in der Münchner Innenstadt angespuckt wurde. Die Angreiferin habe sie beschimpft, weil sie „Chinesin“ sei, berichtet die Betroffene. Niemand habe ihr Hilfe angeboten. Seither frage sie sich immer wieder, „ob es wert ist, in Deutschland zu leben“.

Nach solchen Attacken ziehen sich Betroffene oft aus dem gesellschaftlichen Leben zurück. Oder fühlen sich selbst in den eigenen vier Wänden nicht mehr sicher. Schmidt-Sembdner berichtet von Familien, deren Kinder sich nach rassistischen Attacken nicht mehr auf den Spielplatz oder in eine Straßenbahn trauen.

Die Zahlen der Münchner Polizei untermauern die Beobachtungen der Beratungsstelle. Im Jahr 2024 registrierte der Staatsschutz 755 Straftaten aus dem Phänomenbereich der politisch rechts motivierten Kriminalität. Das ist gegenüber dem Vorjahr ein Anstieg um 10,5 Prozent. 64 Gewaltdelikte waren darunter. Von 549 rassistischen Hassdelikten ordnete die Polizei 379 Tätern aus dem rechten Spektrum zu.

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