Albert von Schirnding: So lebt der Schriftsteller auf Schloss Harmating – Bad Tölz-Wolfratshausen | ABC-Z

Ein Jäger ist Albert von Schirnding nicht. „Ich bin das Gegenteil davon“, sagt er. Hochsitze erklimmt er, um darin zu lesen. Dennoch wohnt der Schriftsteller seit Jahrzehnten in Harmating, einem Jagdschloss auf einem Moränenhügel der Gemeinde Egling. Schirndings Lebensgeschichte ist mit Harmating verbunden, er hat das Schloss zum Denk- und Schreibort gemacht, hier sind Lyrikbände und Erinnerungsbücher entstanden. In seinem jüngsten Memoire stellt sich der Autor, der vor wenigen Wochen seinen neunzigsten Geburtstag gefeiert hat, eine existentielle Frage: „War ich da?“ Die Frage wird zum Ausgangspunkt von Reflexionen über Abschiede und Ankünfte und den eigenen Weg, der letztlich immer nach Harmating führte.
Dass Schirnding heute das Schloss gehört, liegt an der Kinderlosigkeit der Barths. Der letzte männliche Nachkomme der Münchner Patrizierfamilie ist im Ersten Weltkrieg gefallen, eine Cousine der Mutter Albert von Schirndings vererbte ihr 1940 das Haus auf dem Hügel. Das alte Geschlecht bleibt allerdings sichtbar in den Jagdtrophäen, den von den Wänden ragenden Geweihen und Jagdgewehren. Auch in den Ölgemälden, die die jahrhundertelange Geschichte der Familie Barth von Harmating abbildet. Sie stehen in stummem Dialog mit den Fotos, die Albert von Schirndings Familie zeigen, seine Mutter, seinen Sohn. In Schloss Harmating überlagern sich Schichten. So ist Albert von Schirndings Arbeit die des erzählerischen Archäologen, der sich schreibend durch die Zeiten gräbt.
Sein neues Buch beginnt mit einem Blick in eine ferne Vergangenheit, richtet sich auf ein Epochenende. Mit feiner Beobachtungsgabe für die Merkwürdigkeiten des alten Adels beschreibt Schirnding das Regensburger Hofzeremoniell seines Taufpaten, des Fürsten Albert von Thurn und Taxis: die livrierten Lakaien, die Sprachregeln, die Kleiderordnung, das „Operettenhafte“ der antiquierten Abläufe. „Es war wie eine Insel des Ancien Régime“, sagt er. Ob er die Zeit vermisst? Albert von Schirnding muss darüber nicht nachdenken. „Nein, gar nicht.“
Schon in der Kindheit verbringt die Familie die Ferien auf dem Harmatinger Schloss. Die letzten drei Kriegsjahre sucht man Sicherheit in dem Isartal-Winkel. „Man hat von hier den Münchner Himmel rot gesehen“, sagt Schirnding. Schon damals wusste der Junge, was er einmal machen wollte. „Mit acht Jahren war ich überzeugt, dass ich einmal ein bedeutender Schriftsteller werden würde.“ Dass der Knabe sich damals ausmalte, ein großes Buch mit dem Titel „Tiefe Sinne“ zu veröffentlichen, lässt den 90-Jährigen lachen.

Den „Schreibzwang“ – so charakterisiert Schirnding seine ununterbrochene Lust, Erfahrungen in Lyrik und Prosa einzufangen – hat er sich bis heute erhalten. Und bis heute gehört für ihn der Austausch mit den Kollegen zum Autoren-Dasein. Das gelte schon für den Anfang: „Ich kann das allen jungen Autoren auch heute nur raten: Die eigenen Sachen den anderen schicken.“ Der junge Albert von Schirnding habe auf diese Weise seitenlange Kommentare zur eigenen Lyrik erhalten, von Größen wie Günter Eich und Ilse Aichinger, vom alten Hans Carossa oder von Georg Britting. „Ich habe da wenig Schüchternheit besessen.“
Ein Autor fehlt in der Aufzählung, obwohl er in Albert von Schirndings Leben eine große Rolle gespielt hat. „Da steht meine Thomas-Mann-Sammlung“, sagt er etwa und meint damit einen prall gefüllten Schrank mit seltenen Erstausgaben und Sondereditionen des Nobelpreisträgers, der wie Schirnding heuer als Jubilar gefeiert wird. Thomas Mann hat er nicht kontaktiert. „Das ärgert mich heute. Er hätte garantiert geantwortet. Aber da war die Ehrfurcht doch zu groß.“

Seinen Weg als Schriftsteller ist Albert von Schirnding auch so gegangen, neben seiner mit Leidenschaft ausgeübten Aufgabe als Lehrer für Deutsch, Latein und Griechisch. Seit mehr als dreißig Jahren ist das Schloss Harmating sein Hauptwohnsitz. Im Umfeld von Kachelöfen der Augsburger Renaissance, von bemalten Kassettendecken und den siebzig Ahnenbildern, von denen das sprechende Wappen eines bärtigen Mannes blickt, hat sich Schirnding die Frage nach dem Da-Sein gestellt. Bei anderen Autoren könnte angesichts der brennenden Gegenwart oder der langsam einsetzenden Entbehrungen des Alters Melancholie einsetzen. Für Schirnding ist das nichts: „Ich tendiere zu einer gewissen allegrezza“, sagt er lächelnd. „Ich finde das die bessere Lösung als das Lamento – davon hat niemand was.“
Von Ankünften und Abschieden schreibt Albert von Schirnding in seinem neuen Buch. Ob er dabei auch an die Zeit nach ihm denkt? „Und ob! Ich möchte Weichen stellen, aber im Grunde geht mich das Danach nichts mehr an. Das ist eine Gegenwart für die anderen. Aber gleichgültig kann es mir nicht sein.“ Ob Schirndings Enkel einmal die kühle Schlossluft atmen werden, ist fraglich. Doch was er tun könne, habe er getan: „Ich denke, meine Eltern können zufrieden sein“, sagt Albert von Schirnding.

Die Gabe, Jahrzehnt um Jahrzehnt produktiv und heiter zu verbringen, verbindet Albert von Schirnding mit einem Schriftsteller-Kollegen, bei dem er in den Semesterferien Sekretärsaufgaben übernommen hat: Ernst Jünger. Von ihm weiß er einiges zu berichten. Von Feuern, die man gemeinsam in Sichtweite der Wilflinger Residenz lodern ließ und die Frau Jünger nervös machten. Von Geburtstagsfeiern in engen Räumen mit prominentem Besuch („An Helmut Kohl konnte man fast nicht vorbeikommen“). Aber auch von einem Plan, den Ernst Jünger seinem Adlatus mitgeteilt hat. Der immer älter werdende Schriftsteller wollte, berichtet Schirnding, an seinem hundertsten Geburtstag auf einen Berg steigen, eine Flasche Champagner trinken und sich in den Kopf schießen. „Aber als es dann soweit war, hatte er schon Abstand genommen von dem Plan“, weiß Schirnding. Angesprochen auf extravagante Pläne für seinen nächsten runden Geburtstag winkt er lächelnd ab.
Zu tun gibt es noch einiges. Nach wie vor beobachtet Schirnding die Gegenwart, liest im Gehen und teilt großzügig die vielschichtigen Erinnerungen aus seinem Leben. Am Sonntag wird er sein neues Buch im Hollerhaus Irschenhausen präsentieren.
Albert von Schirnding, „War ich da? Von Ankünften und Abschieden“, Lesung im Hollerhaus Irschenhausen, So., 18. Mai, 19 Uhr. Voranmeldung unter Telefon 08178 / 4408