So erlebt ein Vater den Drohnenhorror in Kiew | ABC-Z

Kiew. Oleh Reshetniak berichtet aus dem Korridor seiner Wohnung – von einem Leben im Daueralarm. Zwischen Wut, Müdigkeit und Resignation.
Am Mittwochabend hat der Journalist Oleh Reshetniak (32) Matratzen in den Korridor seiner Wohnung in Kiew geschleppt. Es ist fast zu etwas wie einem Ritual geworden. Im Korridor sind seine Kinder Ivanka (6), Victoria (3), das Baby Oleksandra und seine Frau Anna zumindest vor umherfliegenden Glassplittern geschützt, sollte die Detonationswelle einer nahen Explosion die Fenster zerbersten lassen.
Hauptstadt Inside von Jörg Quoos, Chefredakteur der FUNKE Zentralredaktion
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Seit Tagen greifen russische Drohnen und Raketen die ukrainische Hauptstadt Nacht für Nacht an. An Schlaf ist selten zu denken. Auch in der Nacht zu Donnerstag wird Kiew zum Ziel russischer Luftangriffe. Zwei Menschen sterben, mindestens 16 werden verletzt. Am frühen Donnerstagmorgen schreibt Reshetniak eine lange Nachricht. Sie zeigt, wie müde und ausgelaugt die Menschen in der Ukraine im vierten Jahr des Krieges sind:
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Ukraine-Krieg: Explosionen im Minutentakt
„Alles begann nach dem inzwischen klassischen Szenario: Luftangriffsalarm gegen Mitternacht, die ersten Drohnen fliegen, die bekannten Geräusche von Maschinengewehren und Flugabwehrkanonen, die auf die ankommenden Schaheds feuern.
Mit jeder neuen Welle wird das Summen über dem Haus nur noch lauter. Es fühlt sich an wie ein Computerspiel, bei dem es mit jeder neuen Welle mehr und mehr Feinde gibt. Die Abstände zwischen den lauten Explosionen und der Arbeit der Luftabwehr werden von Minute zu Minute kürzer. Gegen 3 Uhr nachts erreicht die Intensität ihren Höhepunkt. Eine ganze Stunde lang verstummen die Geschütze keine Minute lang.
Oleh Reshetniak ist Journalist und lebt mit seiner Familie in Kiew.
© privat | Privat
Du hebst den Kopf zum Himmel – die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass du eine abstürzende Schahed siehst, die wie ein Komet herabfällt. Sie pfeift wie ein verwundetes Raubtier, auf das gerade geschossen wurde. Sie quiekt, leidet und gibt furchterregende Laute von sich. Aber ihr letztes tödliches Wort wird sie kurz vor dem Tod sprechen – wenn sie in ein Wohnhaus stürzt.
„Getroffen wird immer jemand – heute nicht wir“
Diesmal wieder – nicht wir. Wir sind immer noch Verlierer in dieser grausamen, tödlichen Lotterie. Aber je mehr wir „spielen“, desto höher sind die Chancen, dass wir den Jackpot knacken. Nur ist dies die Art von Lotterie, die niemand spielen und schon gar nicht gewinnen will. Keiner hat uns gefragt.
Inzwischen ist bereits die fünfte Drohne über dem Haus abgeschossen worden. Ein egoistisches Gefühl der Freude macht sich breit: Wenn sie über uns abgeschossen wurde, bedeutet das, dass sie weiterfliegen wird. Jemand anderes hatte wieder Pech.
„Niemand glaubt den Erklärungen europäischer oder amerikanischer Politiker“
Warum erzähle ich dir das? Seit zwei Wochen ist in Kiew jede Nacht die Hölle los. Wenn es nur eine Nacht ist – am Morgen reißen sich die Menschen zusammen, sagen „Scheiß auf Putin“ und gehen zur Arbeit. Wenn es zwei Nächte sind – dann wird die Wut stärker, aber die Kraft ist geringer. Wenn diese Art von Terror einen Monat lang jede einzelne Nacht passiert – dann ist man absolut hilflos.

Die Ukrainer sehen, dass wir mit dem Bösen konfrontiert worden sind. Niemand glaubt den Erklärungen der europäischen Politiker, geschweige denn der amerikanischen. Statt tödlicher Unterstützung gegen den Aggressor im Jahr 2022 und einer realen Chance, die russische Armee zu erledigen, haben wir Angst vor einer Eskalation mit Putin. Diese Untätigkeit hat die Militärwirtschaft des Kremls wieder angekurbelt. Der Punkt, an dem es kein Zurück mehr gibt, ist überschritten. Wir haben verloren. Es ist nur noch eine Frage der Zeit. Europa ist als nächstes dran.“