Simon Rattle: Überragend mit der “Matthäuspassion” | ABC-Z
Auf dem Weg zur dritten “Matthäuspassion” in diesem Jahr beschleicht einen eine leichte Bangigkeit. Aufführungen unter Philippe Herreweghe am Karfreitag in der Isarphilharmonie sowie durch Teodor Currentzis zur Eröffnung der Salzburger Festspiele hatte der Rezensent bereits hinter sich. Nun noch einmal mit dem Chor und Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter Simon Rattle im Herkulessaal. Wird man da überhaupt noch was spüren?
Man kann. Es gehört zum Wunder dieses Meisterwerks von Johann Sebastian Bach, dass es sehr viele Deutungen erlaubt. Man muss sie nur konsequent verfolgen. Und die Persönlichkeit starker Interpreten zulassen – wie in dieser Aufführung, die auf einer Einstudierung mit den gleichen Solisten fußte, bei deren Aufführung im Herbst 2021 das Publikum wegen eines Corona-Falls kurzfristig wieder nach Hause geschickt werden musste und die – ohne Knabenchor und Zuschauer – nur als Stream gesendet wurde.
Im Zentrum: Trost und Hoffnung
Rattle begann den Eingangschor, wie es heute im historisch informierten Stil üblich geworden ist: nicht so schwer, eher tänzerisch bewegt. Und dann, beim kontrapunktischen Zusammenspiel der beiden Chöre mit dem Cantus firmus der Augsburger Domsingknaben, nicht auf Monumentalität setzend, sondern auf eine Durchhörbarkeit und Durchdringung der verschiedenen Stimmen.
Das ist die Normalität jeder guten Aufführung der letzten 20 Jahre. Dann kam die Überraschung: Den Mittelteil mit den Fragen des ersten Chors und den Antworten des zweiten setzte Rattle rhythmisch hochpointiert vom Anfang und seiner Wiederholung ab. Eine Passage, über die andere Interpreten rasch hinwegzukommen versuchen, rückte plötzlich ins Zentrum. Und das ist richtig, weil sich diese Konstellation der aufeinander antwortenden Chöre an weiteren Schlüsselstellen der Passion wiederholt.
Die klare Setzung musikalischer Kontraste blieb bis zum Ende ein Stilprinzip von Rattles Deutung, nicht nur beim grummelnden Erdbeben nach dem unbegleitet gesungenen Choral “Wenn ich einmal soll scheiden”. Der Evangelist berichtete getragener als derzeit üblich, die Arien wurden vergleichsweise rasch gespielt und gesungen, die Choräle meist als klare Statements. Aber machmal betonte Rattle mit Tempo und Dynamik doch eine ihm wichtige Stelle.
Ein Philosoph als Evangelist
Mark Padmore wirkte am ersten Abend an einzelnen Stellen bereits im Winter seiner eindrucksvollen Karriere angelangt. Aber entscheidend ist, was er daraus macht: Sein Evangelist ist ein weiser, prophetischer Mann, der mit Ruhe aus der Kraft seiner Erinnerung und Erfahrung schöpft. Aufgeregte hat es in dieser Rolle zuletzt sehr oft gegeben, und die Schlüssigkeit von Padmores Deutung wog seine stimmlichen Probleme mehr als auf.
Rattles eigentliches Konzept zeichnete sich erst nach einigen Arien deutlich ab. Camilla Tilling sang “Ich will dir mein Herze schenken” ohne jede falsche Ergriffenheit als keusche Liebeserklärung. Auch später betonte sie das Helle, Tröstende der Musik. Die anfangs befremdliche Idee, die Bassarien vom sehr hell timbrierten Bariton Roderick Williams singen zu lassen, wirkte plötzlich konsequent: Auch “Gerne will ich mich bequemen”, “Mache dich, mein Herze, rein” und sogar “Komm süßes Kreuz” verströmten auf diese Weise Zuversicht, und auch der eher helle Klang des Orchesters betonte diese Sicht.
Im Kontrast dazu verkörperte Magdalena Kožená in den Alt-Arien vergleichsweise opernhaft die anteilnehmende “Tochter Zion” als verzweifelte Frau. Die Mezzosopranistin wirkte allerdings für Momente dabei auch wie eine etwas schrullige Tante. Und so ausdrucksstark ihr Gesang auch ist: Die Textverständlichkeit und ihr Deutsch bleiben ausbaufähig.
Eine sehr runde Aufführung
Auch an Georg Nigl als Jesus muss man sich erst ein wenig gewöhnen. Er ist weniger Gottessohn als ein sehr menschlicher Philosoph und Erlöser, dem Melancholie nicht fremd ist. Sehr konsequent wirkt allerdings, wie die von Nigl gestaltete Verzweiflung Jesu im Garten Gethsemane in eine kraftvolle Entschlossenheit umschlagen lässt, sein Erlösungswerk anzugehen.
Rattle brachte auch seine Erfahrungen mit halbszenischen Aufführungen ein: Es gab keinen rituellen Leerlauf, der Aufführungen der Passionen oft zäh werden lässt. Die Solisten verließen bereits während der Nachspiele das Podium, alle Auf- und Abtritte waren so präzise getaktet wie die Musik.
Es war die rundeste Aufführung der “Matthäuspassion” seit langem – lebendiger als der erstarrte Stil Herreweghes, weniger forciert wie die Theatralisierung durch Currentzis, obwohl auch Rattle betont, dass es sich um ein Drama ohne Bühne handelt.
Vor Beginn kritisierten nicht zu Rednern geborene Gewerkschaftsvertreter aus dem Chor und Orchester in gelben Westen die Leitung des Senders für ihre mangelnde Bereitschaft zu Lohnerhöhungen. Und weil wir schon vom Geld reden: Es ist mehr als fair, dass der Bayerische Rundfunk darauf verzichtet, mit den privat finanzierten Aufführungen der Passion gebührenfinanziert in Konkurrenz zu treten. Ohnehin ist die “Matthäuspassion” keine Saisonware, sondern ein zeitloses Meisterwerk, das es auch verträgt, mit Gedanken über Tod und Trost ein Gegenprogramm zu den Dionysien auf der Theresienwiese zu formulieren.