Sie tragen nur Kleidung aus vergangenen Jahrzehnten: „Ich habe keine einzige Jeans“ | ABC-Z

Eine Glocke an der Eingangstür markiert den Eintritt in eine andere Welt: Kleider im Stil vergangener Jahrzehnte an der Stange, ein Ständer mit eleganten Damenhüten, alte Spiegel hinter Leo-Vorhängen in der Umkleidekabine. Mittendrin: Angi Henn, blaues Fifties-Kleid, rot nachgezogene Lippen. Seit 2011 betreibt sie ihr Modegeschäft „Peggy Sue Vintage“ im Frankfurter Stadtteil Sachsenhausen und machte damit ihr Hobby zum Beruf. Vorher hat sie als Grafik- und Webdesignerin gearbeitet.
Henn, 54, wählt sorgfältig aus, welche Stücke bei ihr an der Stange landen. „Gute Qualität ist mir wichtig“, sagt sie. Henn hat Reproduktionen von Kleidung aus der Zeit der Zwanziger- bis Sechzigerjahre im Angebot. Vom Flapperkleid über den ausladenden Pettycoat bis hin zum frechen Minirock: Henns Laden lädt zur Zeitreise ein. Reproduktionen machen den Vintage-Look langlebiger – und alte Mode für verschiedene Körpertypen zugänglicher. Henn meint: „Ich fühle mich wohl in der Mode der Fünfziger, sie geht schmeichelhaft mit dem weiblichen Körper um.“ Nach den Entbehrungen der Vierziger wurden Röcke voller, Hüte extravaganter, Taillen ausgeprägter.
Henns aktuelles Lieblingsteil im Sortiment: ein Set aus Jumpsuit und Rock. Es ist leicht, aus Baumwolle, und sommerlich, mit modernistischem Palm-Springs-Muster. „Damit kann man auf der Badewiese herumspringen und dann, wenn du einen Cocktail trinken willst, ziehst du das Röckchen drüber.“ Henns persönliche Stilikone ist Lauren Bacall, von der hängt sogar ein Foto neben der Kasse. „Ich mag ihren Stil, eher schlicht, sehr elegant.“ Angi Henn holt einige ihrer Schätze aus dem Lager, Originale aus den Fünfzigern. Eine geflochtene Beuteltasche etwa, mit applizierten, knallroten Kirschen. „Ich mag das Verspielte“, sagt sie und streicht sanft über das orangefarbene Strohgeflecht. Die Mode von damals gibt sich mehr Mühe, meint sie. Sie zeigt auf ein Strickjäckchen: „Hier vorn sind unzählige Knöpfe, total unpraktisch, aber wunderschön.“
Die Mode unserer Zeit setzt vor allem auf Komfort: T-Shirt, Jeans, Sneaker. Einige können sich mit diesem Stil nicht identifizieren.

So auch Kitty Steiner. Seit fast zwanzig Jahren sammelt sie Textilien aus den Fünfzigern und Sechzigern. Schon als Kind lieh sie sich von ihrer Tante Perlon-Unterkleider, mit Spitzeneinsätzen und Rüschen. „Das habe ich unter meine Schulklamotten angezogen, wurde natürlich von anderen Kindern schief angeschaut. Aber ich mochte schon immer diesen Stil.“
Wencke Myhre als Stilvorbild
Die 41-Jährige trägt auch heute gern ausgefallene Vintage-Kleidung, zum Beispiel Pyjamas als Straßenkleidung, am liebsten mit Leomuster oder inspiriert von fernöstlicher Mode. Auch während ihrer Ausbildung zur Friseurmeisterin kleidete sie sich im Vintage-Look. „Damals waren das oft Reproduktionen, die meine Oma für mich fertigte.“ Dann setzte sie sich auch selbst an die Nähmaschine. Am liebsten schneidert Steiner aus Originalstoff nach Schnittmustern aus der Zeit. „Ich sammle auch Magazine aus den Sechzigern, da finde ich immer interessante Vorlagen.“
Steiners erster Berührungspunkt mit Vintagemode kam aus der Popkultur: „Musikfilme aus der Zeit, wie ,Am Sonntag will mein Süßer mit mir segeln gehen‘“, schwärmt sie. Auch die Frisur von Schlagersängerin Wencke Myhre war stilprägend: „Ich habe einen Film mit ihr gesehen und bin direkt ins Bad, um mir einen Pony wie ihren zu schneiden.“ Steiner mag außergewöhnliche Frisuren, gern im Beehive-Look, der Bienenkorb-Frisur. Die stylt sie gern für ihre Kunden im Vintage-Friseursalon „Walter Steiner“ in Düsseldorf, den sie gemeinsam mit einer Freundin führt.

Nicht nur die Frisuren sind dort aus einer anderen Zeit, sondern auch die Einrichtung. Von der Decke hängt eine alte Haarschneidemaschine mit Motor, hinter den Stühlen stehen alte Trockenhauben. Inzwischen sieht es auch bei Steiner zu Hause aus wie in einem Museum. „Angefangen habe ich mit Kleinmöbeln, mal ein Lämpchen, mal ein Beistelltischchen.“ Dann kamen auch Elektrogeräte hinzu. Waschmaschine, Mixer, original aus den Sechzigern. „Läuft alles wunderbar“, sagt sie. Während die Mode der Fünfziger, insbesondere inspiriert durch Diors New Look, die Taille betonte und voluminöse Röcke populär machte, wurden die Röcke – Mary Quandt sei Dank – im darauffolgenden Jahrzehnt kürzer und die Schnitte gerader. „In den Sechzigern kam eine neue Farbgebung auf – und andere Stoffe. Orange und Pink, Orange und Lila“, sagt Steiner. Ihr aktuelles Lieblingsteil: ein Originalkleid aus den Sechzigern, bodenlang, Hawaii-Muster, an den Schultern angesetzte „Flügel“.
„Mit Wodka einsprühen und ein paar Tage an die frische Luft hängen“
Kitty Steiner findet ihre True-Vintage-Teile meist auf Flohmärkten, und sie weiß auch, was dann nötig ist: „Mit Wodka einsprühen und ein paar Tage an die frische Luft hängen oder eine verrauchte Kneipe besuchen, zum Neutralisieren von Gerüchen. Um Kleidermotten vorzubeugen, friere ich Kleidung über Nacht ein, bevor ich sie das erste Mal trage.“ Der Reiz des Alten: „Bei Originalsachen frage ich mich immer: Was hat die vorherige Trägerin in dem Kleid erlebt? Wo war das Teil schon überall? Vielleicht in einem coolen Tanzklub in Amerika?“ Sogar Steiners Ehering ist alt, von 1920. „Die Namen der ursprünglichen Träger haben wir dringelassen und unsere hinzugefügt. Dieses andere Leben will ich bewahren.“ Bewahren liebt Kitty: „Ich bin eine Sammlerin, und es fällt mir schwer, Sachen wegzugeben.“ Am liebsten sammelt sie Mäntel und Jacken, inzwischen hat sie über 250 im Schrank hängen.
Niklas Hoppe sagt hingegen: „Ich bin kein Sammler, liebe einfach die Ästhetik.“ Seine Leidenschaft: westeuropäische Herrenmode aus der Zeit um 1900. Genau genommen bezeichnet man diese Kleidung gar nicht mehr als Vintage, sondern als antik, denn die betreffenden Stücke sind inzwischen über 100 Jahre alt. „Die Kleidungsstücke sind aufgrund ihres Alters sehr empfindlich, da bin ich vorsichtig.“ Steiners Mode aus den Sechzigern ist da strapazierfähiger. „Bei 30 Grad für eine halbe Stunde in die Waschmaschine, aufhängen, fertig“, sagt sie. Der damals neu entwickelten Kunstfaser sei Dank.
Serien und Filme haben Hoppes Interesse an der Epoche geweckt: „Boardwalk Empire“, „Downton Abbey“, „Peaky Blinders“, „Babylon Berlin“. Die spielen in den Zwanzigerjahren. Modisch gesehen sagt ihm dieses Jahrzehnt aber weniger zu: „Ich finde den Stil der Zeit um 1900 und 1910 deutlich cooler, die Hosen sind passender geschneidert – und die Mode ist etwas ausgefallener.“ Als Teenager begann er mit historischen Rollenspielen im Kostüm. Irgendwann begann er, erst Kostüme, dann auch Alltagskleidung, selbst zu schneidern. Niklas Hoppe kann fast alles nähen, auch Kleidungsstücke, die man kaum noch von der Stange kaufen kann: Knickerbocker und Gamaschen zum Beispiel.

Er hat inzwischen sogar ein eigenes Nähbuch herausgebracht. „Selbst zu nähen, scheint mir unter Frauen etablierter als unter Männern, was ich schade finde.“ Sein aktuelles Lieblingsteil ist ein selbst gefertigtes Kostüm, eine Braunschweiger Uniform für ein Regency-Event im südenglischen Brighton im Januar. In mühsamer Handarbeit nähte und stickte er Dutzende Knöpfe und Bordüren auf den dunklen Stoff.
Im Alltag trägt Hoppe Anzug. „Das ist für einen ITler vielleicht untypisch.“ Nach Corona legte er die moderne Office-Garderobe komplett ab. „Einen modernen Anzug habe ich aufgehoben, für Hochzeiten; denn da möchte man ja nicht im Mittelpunkt stehen.“ Seine Garderobe sieht mittlerweile aus wie ein Museum. „Modern sind nur meine Sportsachen und ein paar Shirts meiner Lieblings-Metalbands. Ich habe keine einzige Jeans mehr.“ Stattdessen trägt er Weste, Anzug, Zylinder und gezwirbelten Schnurrbart. Hoppes Partnerin ist nicht in Vintage unterwegs: „Manchmal ist sie von meiner Ästhetik irritiert, vor allem von den hohen Hosenbünden und den Hosenträgern.“
Und auch Angi Henn meint, man müsse sich an neugierige Blicke auf der Straße gewöhnen. Alle drei Vintage-Liebhaber bekommen aber auch Komplimente für ihren Stil. Hoppe trägt seine Herrenmode aus Überzeugung. Hosenträger machen alles besser, findet er. Einmal im Jahr mietet er mit Freunden aus ganz Europa eine Villa in Spa in Belgien. Diese bietet eine phantastische Kulisse für diverse „Vintage-Aktivitäten“: Croquet-Spielen im Garten, Tea-Time mit Gurkensandwiches – und natürlich tolle Foto-Möglichkeiten. Als „Vintagebursche“ hat sich Hoppe im Netz zum erfolgreichen Vintage-Influencer gemausert, teilt Bilder, Stylingtipps und humorvolle Videos mit seinen knapp 170.000 Followern. Moderne Technik, alter Look.

Für die Ästhetik hat er seinen Bildschirm mit einem altmodischen Bilderrahmen eingefasst, Kabelboxen verschwinden hinter alten Enzyklopädien. Ein alter Sessel, ein Büffet aus der Gründerzeit, Gemälde vor dunkelgrüner Tapete vollenden seine Büroeinrichtung. Und auch wenn Hoppe aussieht wie aus einer anderen Zeit, meint er: „Ich würde im Leben nicht in dieser Zeit leben wollen, nicht nur aus gesellschaftlich-politischen Gründen, sondern auch wegen des technischen Fortschritts. Ich bin ITler, ein absolutes Computerkind.“
„Das Frauenbild der Fünfziger verkörpere ich überhaupt nicht.“
Angi Henn stimmt zu: „Vintage style, not vintage values.“ Vintage-Mode habe auch eine politische Dimension. „Das Frauenbild der Fünfziger verkörpere ich überhaupt nicht“, sagt sie. Viele der gängigen Klischees über die Zeit stammen aus Filmen wie „Grease“, der in den Achtzigern gedreht wurde. „Ich empfehle, als Inspiration Familienfotos anzuschauen. Wie haben normale Menschen im Alltag ausgesehen, nicht Models oder Ikonen wie Marilyn Monroe oder Audrey Hepburn?“ Und Kitty Steiner sagt: „Ich finde, von der Art, wie mit Kleidung umgegangen wurde, können wir uns hingegen durchaus was abschauen. Reparieren statt wegwerfen, Qualität statt Fast Fashion.“
Die Geschichte hinter der Kleidung verstehen sei wichtig, findet sie. In einer Welt, in der Trends nach Wochen verglühen, folgen Hoppe, Steiner und Henn ihrer eigenen Zeitrechnung. Sie sind keine Kuriositäten, keine ironischen Hipster. Angi Henn sagt: „Das Schöne bei Vintage: Es kommt nie aus der Mode.“