Kultur

Sibylle Berg: Sibylle Bergs Experiment | ABC-Z

Traurig ist’s, hier im Europaviertel von Straßburg, wo die EU-Beschäftigten an einem Mittwochmorgen aus ihren Marriott-Hotels strömen. Sie laufen den Boulevard de Dresde herunter, der leider vom Turm eines Betonwerks überragt wird, und gegenüber von diesem Betonwerk tagt das Parlament der Europäischen Union. Der Himmel ist sitzungswochengraublau, es regnet, aber auch nicht so richtig, es tröpfelt – und dass einem das jetzt alles so übertrieben traurig vorkommt, das liegt natürlich auch daran, dass man im Zug hierher in einem alten Buch der Schriftstellerin Sibylle Berg herumgelesen hatte, und die Bücher von Sibylle Berg waren, bis vor Kurzem jedenfalls, immer sehr traurig. Bei Sibylle Berg war immer alles schlimm und einsam, und dann wurde es noch schlimmer.

Ausgerechnet diese Sibylle Berg ist im vergangenen Jahr bei der sogenannten Europawahl als Abgeordnete ins EU-Parlament gewählt worden; ein Parlament, von dem man zwar weiß, dass es existiert, aber über das man sonst nicht viel sagen könnte. “Man”, das ist in diesem Fall mindestens der Reporter, dessen EU-Kenntnisse ungefähr dem der deutschen Durchschnittsbevölkerung entsprechen und der sich deswegen hier verabredet hat, mit der Abgeordneten Sibylle Berg: Schnupperkurs, wir gucken ihr einen Tag lang bei der EU-Arbeit zu.

Es ist jetzt neun Uhr, kurze Nahaufnahme des EU-Apparats, wie sie sich hier vor dem Eingang des Parlaments darstellt, wo der Reporter in einem Raucherhäuschen wartet, in dem niemand raucht: viele Männer in Fleecejacken oder sitzungswochengraublauen Anzügen. Zwischendurch huscht auch mal ein älterer Herr mit weißem, wildem Haar in einer Wachsjacke vorbei, vielleicht ein Rechter. Bisschen Weltpolitik ist auch: Ein kleiner, überambitionierter Rothaariger mit Kindergesicht fällt auf, weil er einen viel zu gut sitzenden Anzug trägt, außerdem einen Laptop und zwei Regenschirme; auf Französisch begrüßt er eine asiatische Delegation. Beim Metalldetektor muss man seinen Gürtel ausziehen.

“Manchmal denke ich, es wäre total gut, an irgendwas glauben zu können. An eine politische Idee oder so. Aber heute glaubt kaum wer noch was”, das schreibt Sibylle Berg auf den ersten Seiten ihres Debütromans Ein paar Leute suchen das Glück und lachen sich tot, erschienen 1997. Auf dem Cover ist ein Bild von ihr, sie liegt im Bett, den Kopf aufgestützt auf der rechten Hand, in der sie außerdem noch eine brennende Zigarette hält. Fast dreißig Jahre später betritt man ihr Parlamentsbüro, und die EU-Politikerin Sibylle Berg liegt dort auf kuscheligen Sitzkissen, im Mund hat sie eine weiße Plastikhülse, auf der sie herumkaut, ein Nikotininhaliergerät. Sie trägt schwarze Wanderstiefel, schwarze Wollsocken, einen schwarzen Blazer und einen schwarzen Rollkragenpullover, über dem das blaue Band mit ihrem EU-Hausausweis baumelt. “Kaufe nichts, ficke niemanden”, der Satz, der lange als Selbstauskunft in ihrem Twitter-Profil stand, er steht nun auf der Fußmatte des EU-Büros.

Was haben wir heute vor? Wichtigster Termin: Mittags ist Abstimmung im Plenarsaal. “100 Minuten, so lang ging das noch nie in meiner Amtszeit.” Berg kaut müde auf ihrer Plastikzigarette. “Aber muss so lang sein, weil die jetzt mal so ordentlich aufrüsten wollen.” Es gehe, seit sie hier sei, eigentlich immer um: viel Geld. Und viel Aufrüstung. “Worum es hingegen nie ging, ist Armutsbekämpfung. Es ging eigentlich noch nie um Wohnungsnot, es ging noch nie um alleinerziehende Mütter.” Das ist jetzt der ganz besondere Sibylle-Berg-Populismus, den man vor allem aus ihren letzten beiden Romanen kennt, ihren bisher erfolgreichsten. Berg hat sich nämlich in den letzten Jahren politisch radikalisiert. “In der Pandemie bin ich knapp an einer Depression vorbeigeschrammt. Da wurden die Angst, Panik, Einsamkeitsgefühle, die es vorher schon gab, noch einmal beschleunigt. Das Nicht-mehr-miteinander-reden-Können, die Lagerbildung.” Dann kam die Inflation, dann der Krieg, zwischendurch auch noch “Klimakatastrophen”. “Der kapitalistische Körper stirbt und strampelt und zuckt und ist bereit, alles mit in den Abgrund zu reißen”, das ist Bergs Kurzanalyse der politischen Gesamtlage.

Es gehe eigentlich nur um viel Geld und Aufrüstung, sagt Berg über die EU. © Anne-Sophie Stolz für DIE ZEIT

Jetzt geht’s aber noch nicht in den Abgrund, jetzt kommt erst mal der Satiriker und ehemalige Titanic-Chefredakteur Martin Sonneborn rein, ja, hallo. Er hat sein Büro nebenan, Berg und er sind die beiden EU-Abgeordneten der Partei Die Partei, 2004 gegründet von Sonneborn und anderen Titanic-Redakteuren. Berg bietet ihm einen Platz an auf einem Sitzkissen. “Da komm ich nie wieder hoch”, sagt Sonneborn. Er ist seit mehr als zehn Jahren im EU-Parlament, am Anfang war er der Clown, der Satiriker, jetzt sieht er sich eher als Investigativreporter, der aufdeckt, wie die EU arbeitet, der auf die Machenschaften von Ursula von der Leyen hinweist, über die deutsche Medien zu wenig berichten – seiner Meinung nach jedenfalls.

Überhaupt: die Medien. Berg schimpft über Klickgetriebenheit und Angstmacherei, die sie beim Spiegel, wo sie lange Kolumnistin war, genauso zu beobachten meint wie bei der ZEIT. Und da sieht sie auch ihre Aufgabe als Politikern: Sie will eine Alternative anbieten zu dem, was sie die “Politik der Angst” nennt, zum Ohnmachtsgefühl. “Ich bin hier angetreten, um Hoffnung zu verbreiten. Die Menschen zueinanderzubringen.” Sie habe angefangen, in ihren Büchern zu leben, erklärt Berg, und in ihrem letzten Roman, da sei die Revolution tatsächlich gelungen. Stimmt: In dem Buch, das vor drei Jahren unter dem geheimnisvollen Dreibuchstabentitel RCE erschien, schafft es eine verschworene Gemeinschaft von Aktivisten und Hackern, das politische System Europas zu stürzen, ohne Blutvergießen. Aber das reicht Berg noch nicht: In ihrem nächsten Buch, sie hat es gerade fertig geschrieben, entwirft sie die bessere, gerechtere Gesellschaft, die nach dieser Revolution erblüht.

Im Kleinen will sie diese bessere Gesellschaft jetzt schon einmal aufblitzen lassen in der EU-Wirklichkeit. Berg plant einen Hackathon für Frauen; ein Programm für politische Bildung, mit dem sie durch Deutschland touren will; ein Festival mit Wissenschaftlern in Berlin. In einem neuen Podcast spricht sie mit Computerfachleuten über die Gefahren der digitalen Überwachung. Dem Satiriker Sonneborn reichte es nicht, sich nur über die EU lustig zu machen, er wollte über sie aufklären. Und der Schriftstellerin Berg reicht es nicht, die EU nur traurig zu finden, sie will jetzt Hoffnung machen. Hier aus ihrem EU-Büro heraus, in das sie einen richtig gemütlichen Sisalteppich hat legen lassen, über den sitzungswochengraublauen EU-Einheitsbodenbelag. Einen Stuhl oder Schreibtisch gibt es nicht, nur die Sitzkissen. Die Stimmung: Wohngemeinschaft. Nein, eher: Jugendzimmer, Ranzen in die Ecke, Computerkiste hochfahren, Freunde einladen, LAN-Party, Revolution planen, Eltern verboten. Da passt dann auch der mütterliche Hinweis ihrer Mitarbeiterin, die gegenüber in einem Sitzsack sitzt und bis eben in ihr MacBook tippte: Gleich ist Abstimmung, Sibylle. Willst du nicht lieber vorher was essen? Nimm doch eine Banane, sonst kippst du um!

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