Serie Kafkas Orte (Zürau): Vielleicht werde ich Dorfnarr | ABC-Z
Der Bahnhof von Měcholupy hat strammere Tage gesehen: Tage, an denen in der Siedlung auf der Strecke zwischen Prag und Komotau mehr als die gut zwanzig Züge gehalten haben, die dort heute laut Fahrplan täglich verkehren. An diesem Abend liegt eine tiefe Ruhe über dem Gelände, als wir von der Straße das Bahnhofsgebäude betreten, eine Treppe hochsteigen und durch eine zweite Tür zu den Bahnsteigen kommen. Ein Güterzug steht auf einem hinteren Gleis, als sei er dort vergessen worden, ein Stückchen weiter, am Ende des Bahnsteigs, den das Grünzeug von den Rändern her bedrängt, schrauben Männer an einem Auto herum. Und eine entspannte Angestellte trägt ein rotes T-Shirt mit der fernwehmütigen Aufschrift „New York City: Brooklyn“.
Zur Straße hin hat die Fassade einiges an Putz eingebüßt, dafür ist der Boden noch immer mit den alten Platten und einem Mosaik aus der einst berühmten Rakonitzer Werkstatt ausgelegt. Er lässt ahnen, welch gediegenen Eindruck das 1870 erbaute Gebäude den Passagieren vermittelte, als der Ort noch Michelob hieß und ein lungenkranker Dichter hier am Abend des 12. September 1917 ankam, um sich im nahen Dorf Zürau zu erholen und über seinen Weg klar zu werden.
Er hatte vier Möglichkeiten
Warum ausgerechnet Zürau? „Liebe Ottla“, schreibt Kafka seiner Lieblingsschwester am 29. August 1917 aus Prag, „ich habe vier Möglichkeiten“, nämlich um sich von dem Blutsturz zu erholen, den er in der Nacht vom 10. auf den 11. August erlitten hatte: ein deutliches Zeichen seiner Lungentuberkulose, an der er sieben Jahre später sterben sollte. Eine dieser vier Möglichkeiten ist Zürau, wo seine Schwester seit Kurzem einen Hof bewirtschaftet, der ihrem Schwager Karl Hermann gehörte – „nicht fremd, nicht eigentlich schön, aber mit Dir und vielleicht Milch“, fasst Kafka Ottla gegenüber die Vorzüge ihres Wohnorts zusammen.
Also Zürau. „Für 8–10 Tage“ möchte Kafka dorthin reisen, geblieben ist er dann mit kurzen Unterbrechungen mehr als sieben Monate. Tatsächlich kann man sich kaum bessere Orte vorstellen, um aus der Welt zu verschwinden und doch an ihr teilzuhaben, wenn man das will. Der Weg von Měcholupy führt durch das Hopfengebiet rund um die dafür berühmte Stadt Žatec (zu Kafkas Zeit: Saaz), übermannsgroße Pflanzen, dicht an dicht, die Ernte ist harte Arbeit, und Ottlas labiler Bruder wartet lieber mit seinem Kommen, bis das erledigt ist. Der Schnellzug braucht 1917 von Prag zwei Stunden bis Michelob, der Personenzug dreieinhalb.
Eine halbe Stunde fährt Ottlas Kutsche vom Bahnhof bis Zürau, sie bringt Franz Kafka und manchmal Besuch für den angeschlagenen Mittdreißiger – Familie, Freunde, Kollegen und seine Verlobte Felice Bauer, die nach zwei Nächten auf dem Dorf wieder abreist. Harmonisch ist ihr Aufenthalt nicht. Hat Kafka ihr zu verstehen gegeben, dass er seine Krankheit als Aufstand des Körpers gegen sein bisheriges Leben ansieht? Wenige Wochen später, zum Jahreswechsel 1917/18, lösen sie ein weiteres Mal ihre Verlobung auf.
Das einzige Klavier von Nordböhmen
Groß ist das Dorf nicht, damals wie heute. Die Wege dorthin treffen sich an der Kirche und einer Art Teich, den die Kinder im Sommer zum Planschen und im Winter zum Schlittschuhfahren nutzen. Davor liegt ein weiter Platz. Ottlas einstiger Hof steht dicht an der Kirche, sein Eigentümer renoviert ihn mit Eifer und Geschick, wie es scheint, während das ebenfalls renovierungsbedürftige Gotteshaus noch einen langen Weg vor sich hat.
370 Menschen lebten in Zürau, als Kafka hier Erholung suchte. Heute sind es kaum ein Viertel davon. Es gibt keine Kneipe mehr und auch keine Geschäfte. Und auch die Lärmbelästigung ist verschwunden, die Kafka schon nach einer guten Woche wortreich beklagt hatte: „Mein Zimmer ist zwar in einem stillen Haus, aber gegenüber ist das einzige Klavier von Nordböhmen, untergebracht in einem großen Hof, dessen Tiere einander überschreien. Fast alle Gespanne des Dorfes fahren früh an mir vorüber und alle Gänse laufen dort zum Teich. Aber das Schlimmste sind 2 Klopfer irgendwo, einer klopft auf Holz, einer auf Metall, unermüdlich besonders der erste, er arbeitet über seine Kräfte, er übernimmt sich, aber ich kann kein Mitleid mit ihm haben, wenn ich ihm von 6 Uhr früh an zuhören muß. Hört er aber für ein Weilchen wirklich auf, ist es nur, um auch den Metallklopfer vorzulassen.“
Er füttert die Ziegen
Daran gewöhnt er sich. Täglich acht Stunden verbringt er auf einem Liegestuhl in der Sonne, halb nackt und von den Dorfbewohnern meist in Ruhe gelassen. Er träumt vor sich hin, liest, ist viel für sich, füttert bisweilen die Ziegen, indem er ihnen die hohen Zweige der Büsche mundgerecht herunterbiegt, und lässt die Prager Freunde in Briefen an seinem Leben teilhaben. Es gefällt ihm in Zürau, er möchte gern ganz dort bleiben. „Vielleicht werde ich noch Dorfnarr werden“, schreibt er und dass er auf den Posten hoffen dürfe, weil der bisherige Inhaber dieser Stelle schon vorgerückten Alters sei.
So sehr es ihm in Zürau gefällt, in einem Punkt häufen sich die Klagen, je weiter der Herbst vorrückt. In Kafkas Schlafzimmer siedeln Mäuse. „Was für ein schreckliches stummes lärmendes Volk das ist“, schreibt er am 15. November an einen Freund: „Um 2 Uhr wurde ich durch ein Rascheln bei meinem Bett geweckt und von da an hörte es nicht auf bis zum Morgen.“ Er holt die Hauskatze, die ihm wegen ihrer Zudringlichkeit eigentlich verhasst ist, zu sich ins Zimmer, aber die hilft nicht viel und bringt neuen Ärger – „verunreinigt sie sich, muß ich das Mädchen aus dem Erdgeschoß holen.“ Allmählich zeigen die Nächte Wirkung: „Mein Gehör hat sich tausendmal verfeinert und ist ebensoviel unsicherer geworden, streiche ich mit dem Finger übers Leintuch, weiß ich nicht mehr ganz bestimmt, ob ich nicht eine Maus höre. Aber Phantasien sind die Mäuse deshalb nicht, mager kommt abends die Katze zu mir herein und wird am Morgen dick hinausgetragen.“ Allerdings entleert sie sich in seinen Pantoffel und erbricht bisweilen, was sie nachts gefressen hat.
Er benötigt mehr Lampenöl
Mitte November friert der Teich zu, die Sonne geht schon am frühen Nachmittag unter; um zu lesen, benötigt der Besucher aus Prag jetzt mehr von dem teuren Lampenöl. Dafür notiert er auf eine Anzahl Zettel eine Reihe von Notizen, die sein Freund Max Brod später die „Zürauer Aphorismen“ nennen und den Namen des Dorfs so geradewegs in die Weltliteratur einschreiben wird. In der Weihnachtszeit fährt er nach Prag zu den Eltern, aber den größten Teil des Winters und Frühlings verlebt er auf dem Dorf. Ende April lässt sich der Urlaub, den ihm sein Arbeitgeber gewährte, nicht mehr weiter dehnen, und Kafka kehrt nach Prag zurück.
Was bleibt von seinem Aufenthalt in Zürau? Die deutschen Familien, mit denen er verkehrte, sind seit den Vierzigerjahren vertrieben, aber viele der alten Häuser stehen noch. Die Erinnerung an Kafka verblasste auch hier und brauchte in Zürau, heute Siřem, länger als anderswo, um wieder zu erstarken. Dass seine Spuren im Dorf inzwischen wieder sichtbar geworden sind, ist auch das Verdienst von David Herblich, der einen großen Hof in Spuckweite zu Ottlas bewohnt. Das Anwesen hätten seine Großeltern mütterlicherseits im Jahr 1948 gekauft, sagt er, sein Vater sei aus Oberklee gekommen, einem Ausflugsziel Kafkas, und hätte hierhin eingeheiratet. Nun versuche er, Leben ins mittlerweile nur noch wenig bevölkerte Dorf zu bringen, mit einem alternativen Kulturfestival, zu dem freiwillige Helfer aus aller Welt angereist seien, mit einer Galerie in dem Teil seines Hofes, in dem früher Hopfen getrocknet wurde, und auch mit der Erforschung von Kafkas Aufenthalt in Zürau. Herblich erzählt von einem Audioguide, mit dem man durchs Dorf gehen kann, von Besuchergruppen auf Kafkasuche, von Wissenschaftlern und von Schulklassen aus Prag.
In der Galerie ist es düster und staubig, Hopfengeruch hängt in der Luft. Herblich zeigt eine tschechische Ausgabe von Kafkas Roman „Das Schloß“ mit vielen Unterstreichungen. Alles Stellen, die mit Zürau in Verbindung stünden, sagt Herblich, die Brücke, die ins Dorf führt, einen Brückengasthof hätte es damals unter dem Namen „Zum blauen Stern“ auch in Zürau gegeben, das Schulhaus stehe dort, wo es laut Roman auch stehen sollte, der Ofen, der im Buch so eine große Rolle spielt, sei zwar inzwischen verschwunden, das aber erst seit etwa fünfzehn Jahren.
Und dann natürlich das Schloss.
Wir verlassen Herblichs Hof über einen Pfad und laufen einen Hügel hinauf. Nichts leichter als der Weg zu jenem kastenförmigen Gebäude über dem Dorf, K. wäre in fünf Minuten dort. Ein bisschen klein für all die Verwaltungsaufgaben, die der Roman ihm zuschreibt. Und gibt es da nicht auch das hoch gelegene Schloss über Friedland, das ebenfalls von Kafka besucht wurde und beansprucht, Vorbild für das Romangebäude zu sein?
„Friedland? Das ist doch kein Dorf!“, sagt Herblich und hat natürlich recht. Auch wenn das Zürauer Speichergebäude vielleicht auch kein richtiges Schloss ist. Und ist das überhaupt wichtig? „Es gibt Fragen, über die wir nicht hinwegkommen könnten, wenn wir nicht von Natur aus von ihnen befreit wären“, heißt es in den Zürauer Aphorismen. Und wenn etwas den Gang durch Zürau so aufregend macht, dann die Vorstellung, dass Kafka hier zur äußeren Ruhe kam, um daraus derart brodelnde Sätze zu erschaffen.