Serbien: Gewaltige Protestwelle – Politik | ABC-Z
Es sind mittlerweile die größten Protestversammlungen seit Jahrzehnten in Serbien. Am vergangenen Sonntag demonstrierten nach Berechnungen der Organisation „Archiv Öffentlicher Versammlungen“ etwa 100 000 Menschen in der Hauptstadt Belgrad gegen ihre Regierung – es waren demnach mehr Menschen als bei den Protesten im Oktober 2000, die seinerzeit zum Ende der Herrschaft des jugoslawischen Präsidenten und mutmaßlichen Kriegsverbrechers Slobodan Milošević führten. Das serbische Innenministerium hingegen gab die Zahl der Protestierenden mit 28000 bis 29000 an.
Die seit Wochen stattfindenden Proteste werden vor allem von Studierenden, Schülerinnen und Lehrern getragen. Auch an diesem Sonntag schwiegen die Demonstrierenden für 15 Minuten und ließen die Taschenlampenfunktionen ihrer Mobiltelefone leuchten. Sie hielten Banner hoch mit Slogans wie „Eure Hände sind blutig“ und „Korruption tötet“. Auslöser für die Protestwelle war der Einsturz eines Bahnhofs-Vordachs in der nordwestlichen Stadt Novi Sad am 1. November gewesen, bei dem 15 Menschen starben.
Die Protestierenden werfen der Regierung vor, mit Rücksicht auf China Schlamperei und Korruption zu vertuschen
Zuvor war der Bahnhof von chinesischen Firmen renoviert worden; er ist ein wichtiger Halt auf der Strecke Belgrad-Budapest, die wiederum einen Abschnitt der chinesischen Initiative „Neue Seidenstraße“ bildet. Die Unterlagen zur Renovierung hatte das serbische Bauministerium als vertraulich eingestuft, was das Misstrauen und den Zorn der Protestierenden zusätzlich anheizte; sie werfen der Regierung vor, mit Rücksicht auf China mutmaßliche Schlamperei und Korruption bei den Arbeiten zu vertuschen. Die Behörden wiederum griffen vor allem am Anfang der Protestwelle hart durch und inhaftierten auch prominente Demonstranten, etwa einen früheren Vizepräsidenten der Region Vojvodina.
Am 22. November dann verprügelten mutmaßlich regierungsnahe Angreifer Studierende, die sich vor der Fakultät für Darstellende Künste an der Universität Belgrad versammelt hatten, um der Opfer der Bahnhofs-Katastrophe zu gedenken. Daraufhin erfasste eine Welle von Studentenprotesten das ganze Land, zahlreiche Fakultäten und Schulen wurden blockiert, Lehrkräfte schlossen sich an.
Präsident Aleksandar Vučić räumte nach der Demonstration vom Sonntag ein, dass da eine „extrem große Versammlung“ stattgefunden habe; er sei „jederzeit bereit“, sich die Meinungen der Protestierenden anzuhören. Zuvor hatte er staatliche Zuschüsse angekündigt, die jungen Menschen den Kauf von Wohnungen erleichtern sollten. Bildungsministerin Slavica Đukić Dejanović sagte am Dienstag, sie wolle sich mit Vertretern der Studierenden zu Gesprächen treffen. Zugleich erklärte sie, die Proteste seien „Teil eines geplanten Programms politischer Gruppierungen“, die einen „Regierungswechsel“ anstrebten.
Mobiltelefone von Journalisten und Aktivisten wurden mit Spionage-Software infiziert
Das Vertrauen vieler Bürger in die Regierung war zusätzlich erschüttert worden, nachdem die Menschenrechtsorganisation Amnesty International Mitte Dezember in einem Bericht festgestellt hatte, dass Polizei und Geheimdienst in Serbien zahlreiche Mobiltelefone von Journalisten und Aktivisten mit Spionage-Software infiziert hatten. Die Regierung in Belgrad berief sich darauf, „im Rahmen der Gesetzgebung“ gehandelt zu haben, und warf Amnesty „Sensationalismus“ vor.
Die Proteste in Serbien und die Vorwürfe wachsender Repression durch die Regierung verschärfen auch ein Dilemma der Bundesregierung: Sie will die europäische Autoindustrie unabhängiger von chinesischen Lieferketten machen – deshalb soll Serbien, das bedeutende Vorkommen an Lithium hat, dieses für E-Auto-Batterien wichtige Leichtmetall liefern. Bundeskanzler Scholz war deshalb im Juli eigens nach Belgrad gereist. Allerdings gibt es in Serbien massive ökologische und rechtliche Bedenken gegen den geplanten Abbau. Immer wieder hatten Zehntausende gegen ein Bergbauprojekt im Jadar-Tal demonstriert.
Am 10. Dezember dann folgte ein Gegenbesuch von Aleksandar Vučić: Gemeinsam mit Bundeskanzler Olaf Scholz reiste Serbiens Präsident in die traditionsreiche sächsische Bergbaustadt Freiberg, wo ebenfalls Lithium abgebaut werden soll. Man strebe gemeinsam „hohe Umweltstandards“ an, sagte Scholz: „Wir wollen bei der Zusammenarbeit auch nachhaltig kooperieren, und wir wollen unser Wissen teilen und voneinander lernen“.
Der EU-Beitrittsprozess stockt, auch weil Belgrad weiter eng mit Moskau zusammenarbeitet
Vučić pries bei der Gelegenheit nicht nur die geplante Zusammenarbeit, die „viele wirtschaftliche Vorteile für Serbien bringen würde“, sondern dankte Deutschland auch für die „Eröffnung von Cluster 3 in den Beitrittsverhandlungen mit Serbien und für die Unterstützung Serbiens auf dem europäischen Weg“. Die Beitrittsverhandlungen zwischen Serbien und der Europäischen Union, bei denen Cluster 3 eine Gruppe von Kapiteln bezüglich Wettbewerbsfähigkeit und Wirtschaftswachstum bildet, stocken seit Jahren, unter anderem weil sich Belgrad bislang nicht, wie von Brüssel gefordert, der EU-Außenpolitik anpasst, sondern weiterhin enge Wirtschaftsbeziehungen zu Russland unterhält und sich den Sanktionen gegen Moskau nicht anschließt. Außerdem stockt die von der EU angestrebte „Normalisierung“ der Beziehungen Serbiens mit dem benachbarten Kosovo. Und der jüngste Umgang Belgrads mit den Protesten im eigenen Land schützt zusätzliche Zweifel am Zustand von dessen Demokratie und Rechtsstaat.
Ist nun, wie Vučić in Freiberg suggerierte, wirklich der Beitrittsprozess in eine neue Phase eingetreten? Offenbar nicht: Aus einer Antwort des Auswärtigen Amtes an den Abgeordneten Thomas Hacker, europapolitischer Sprecher und Berichterstatter für den Westbalkan der FDP-Bundestagsfraktion, geht hervor, dass innerhalb der EU noch gar nicht über eine mögliche Eröffnung von Cluster 3 entschieden wurde. Und ob es tatsächlich dazu kommt, ist mehr als fraglich; in vielen Mitgliedstaaten überwiegen angesichts des Zustands von Demokratie und Rechtsstaat in Serbien die Bedenken. Eine Sprecherin der Bundesregierung bestätigt, dass der Europäische Rat „noch nicht über die Öffnung von Cluster 3 entscheiden“ habe; dies erfolge „im Rahmen des leistungsbasierten EU-Beitrittsprozesses auf Basis der (positiven) Empfehlung der Europäischen Kommission.“ Serbiens Präsident Vučić hat sich in Anwesenheit von Bundeskanzler Scholz also in Freiberg offenkundig etwas voreilig gefreut.
Thomas Hacker, der auch Vizepräsident der Südosteuropa-Gesellschaft ist, begrüßt es als „sehr wichtiges Signal, dass der Rohstoff Lithium vorhandene demokratische Defizite in Serbien nicht weichspülen konnte“.