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Senatorin Loren Legarda über die Philippinen als Buchmessegastland in Frankfurt | ABC-Z

Welche Bedeutung hat Literatur für die nationale Identität der philippinischen Bevölkerung?

Literatur ist das gemeinsame Gedächtnis und die gemeinsame Vorstellungskraft der Filipinos, entstanden aus Jahren der Kolonialisierung und Widrigkeiten, die wir als Nation durchlebt haben. In einem Land mit so vielfältigen Kulturen, Sprachen und Erzählungen wird Literatur zu einem lebendigen Archiv des Überlebens, der Sehnsüchte und des Wandels. Sie fördert ein Identitätsgefühl, das sowohl in indigener Weisheit verwurzelt als auch offen für globale Perspektiven ist. Unsere Epen, Gedichte und Romane verschaffen uns die Fähigkeit, über Unterschiede hinweg Empathie zu empfinden, sie lehren uns, sich gegen Ungerechtigkeit zu wehren und daran zu glauben, dass Einheit in Vielfalt gedeiht. In diesem Sinne ist Literatur sowohl ein Instrument zur Gestaltung der nationalen Identität als auch eine Quelle für Mitgefühl und Widerstands­fähigkeit. Filipino zu sein, bedeutet, zu einer Gemeinschaft von Geschichtenerzählern zu gehören, die beharrlich Hoffnung, Würde und Sinn aus einer komplexen und sich ständig weiterentwickelnden Geschichte schöpfen.

Wie wichtig ist die Vielzahl der Sprachen auf den Philippinen?

Jede der 135 Sprachen auf den Philip­pinen ist für die intellektuelle und kulturelle Dynamik des Landes von großer Bedeutung und prägt das bürgerliche Leben, den kreativen Ausdruck und die Widerstandsfähigkeit der Gemeinschaften auf unseren 7641 Inseln. Die sprachliche Vielfalt ist nicht nur eine geographische Tatsache, sondern auch eine strategische Ressource, die den sozialen Zusammenhalt stärkt, den Zugang zu Bildung fördert und das Land in die Lage versetzt, in globalen Debatten über Wissen, Kulturerbe und Innovation eine führende Rolle zu übernehmen. Schutz und Pflege unserer Sprachen sind von entscheidender Bedeutung für die Schaffung einer Gesellschaft, die ihre Geschichte würdigt und gleichzeitig Wege für einen nachhaltigen Wandel in der modernen Welt ebnet.

Unterstützt die Regierung Übersetzungen in die verschiedenen einheimischen Sprachen?

Ja, weil sie diese als unentbehrlich für die Widerspiegelung der sprachlichen und kulturellen Vielfalt des Landes ansieht. Im Rahmen der Übersetzungszuschüsse des National Book Development Board (NBDB) werden sowohl lokal als auch international Projekte durchgeführt. Auf lokaler Ebene finanziert das Programm regionenübergreifende Projekte, die eine Brücke zwischen den Sprachen der Philippinen schlagen und es ermöglichen, dass Kinderbücher, Romane und andere Werke, die auf Englisch, Waray, Hiligaynon, Kapampangan oder in anderen Sprachen verfasst sind, in verschiedenen Gemeinschaften verbreitet werden. Auf internationaler Ebene fördert das Förderprogramm Übersetzungen in wichtige Weltsprachen, auch ins Deutsche.

Wie lässt sich die Beziehung zwischen den Philippinen und Deutschland mit Bezug auf die Literatur beschreiben?

Sie ist geprägt von gegenseitiger Neugier, Engagement und historischer Resonanz. Beide Seiten glauben an die Kraft von Worten und Ideen, Gesellschaften zu beeinflussen, Gemeinschaften aufzubauen und Fortschritt anzuregen. Im Jahr 1887 weckte ein bahnbrechendes literarisches Werk unseres Helden José Rizal das nationale Bewusstsein: der Roman „Noli me tangere“. Die Rufe des philippinischen Volkes nach Würde und Freiheit fanden damals ihren Ausdruck in diesem Werk, das als Motto Schiller zitiert, der Mittelmäßigkeit und moralischen Verfall angesichts der Macht anspricht. Das spiegelt auch den moralischen und intellektuellen Mut deutscher Schriftsteller und Denker wider, die in ihrem eigenen historischen Kontext die Literatur genutzt haben, um sich gegen Autoritarismus zu wehren, Dogmen zu durchbrechen und die Wahrheit zu verteidigen. Auch Rizals Gedicht „A Las Flores de Heidelberg“ ist wie sein Roman vom Geist des Dialogs und des Nachdenkens geprägt: als eine lyrische Hommage, die Bewunderung und Dankbarkeit für die intellektuelle Großzügigkeit Deutschlands und den Austausch von Ideen über Zeit und Raum hinweg zum Ausdruck bringt. Die literarische Verbindung unserer Länder geht aber über Rizal hinaus. Sie setzt sich fort durch Über­setzung und Veröffentlichung philippinischer Werke in Deutschland sowie durch kontinuierlichen akademischen und künstlerischen Austausch zwischen unseren Schriftstellern, Übersetzern und Wissenschaftlern. Die Rolle als Ehrengast der Frankfurter Buchmesse erneuert und stärkt diesen Dialog. Wir sind durch den gemeinsamen Glauben an Sprache, Vorstellungskraft und Wahrheit als Grundlagen menschlicher Freiheit verbunden.

Und wie sieht es in anderen Bereichen als der Literatur aus?

Deutschland ist einer der beständigsten Partner der Philippinen im Bereich der nachhaltigen Entwicklung. Über die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit haben unsere Länder bei Programmen in den Bereichen Klima­resilienz, erneuerbare Energien, Erhalt der biologischen Vielfalt und Katastrophenvorsorge zusammengearbeitet. Im kulturellen Bereich hat das Goethe-Institut in den Philippinen maßgeblich zur Förderung des kulturellen Austauschs durch Übersetzung philippinischer Werke und Förderung von Filmfestivals und Ausstellungen beigetragen. Wir wiederum haben an deutschen Universitäten wie der Ruhr-Universität Bochum, der Universität Hamburg und der Humboldt-Universität Philippinistik-Studiengänge eingerichtet, als Plattformen zur Förderung des interkulturellen Dialogs.

Was erwarten die Philippinen von ihrer Rolle als Ehrengast der Frankfurter Buchmesse?

Diese Rolle ist eine Anerkennung dafür, dass unsere Literatur nicht nur Geschichten erzählt, sondern auch Antworten auf die Herausforderungen der Welt bietet – aus der Perspektive eines Volkes, das jahrelange Kolonialisierung erdulden, ex­treme Naturkatastrophen überleben und politischen Umwälzungen trotzen musste, aber dennoch von Hoffnung und Erneuerung statt von Verzweiflung erzählt.

Wie gelang es den Philippinen, ihre Präsentationen in Frankfurt in so kurzer Zeit (nur zwei Jahre nach der Bestätigung als Ehrengast) zu organisieren?

Die Teilnahme der Philippinen als Ehrengast entstand aus der Überzeugung, dass unsere Stimmen zu den großen Literaturen der Welt gehören und dass dieses Vorhaben durch die Beharrlichkeit und den Einfallsreichtum des philippinischen Volkes verwirklicht werden kann. Mit Engagement, Vertrauen und Unterstützung von Filipinos, die dieselbe Leidenschaft für Kultur und Phantasie teilen, hat uns unser gemeinsames Streben zu diesem gemeinsamen Moment geführt. Jeder Schritt dahin wurde von denen geprägt, die Kultur in den Mittelpunkt ihrer Arbeit stellen, Literatur zu ihrem Kompass und Zufluchtsort machen, Schwierigkeiten mit Kreativität begegnen und verstehen, dass Geschichten Lebenselixier sind. Kunst ist ein Akt des Glaubens an das, was unser Volk werden kann.

Gibt es in den Philippinen noch politische Debatten über die Teilnahme als Ehrengast, insbesondere in Bezug auf Gaza?

Die Debatten zu Hause gehen weiter, und wir begrüßen sie als Teil eines gesunden demokratischen Austauschs. Unsere Teilnahme als Ehrengast ist geprägt von einer literarischen Tradition, die durch die lange Kolonialgeschichte der Philippinen geprägt ist, wodurch unsere Schriftsteller und Kulturschaffenden besonders sensibel für Fragen der Gerechtigkeit, Würde und Solidarität sind. Diese Gespräche schwächen unsere Rolle in Frankfurt nicht, sondern bestätigen vielmehr, dass die philippinische Literatur sowohl kreative Vitalität als auch ein Bewusstsein mitbringt, das in unserer historischen Erfahrung und unserem Respekt für die universelle Menschenwürde verankert ist.

Wie würden Sie besondere Stärken der philippinischen Literatur beschreiben?

Die Stärke der philippinischen Literatur liegt in ihrer Fähigkeit, Widrigkeiten in Widerstandsfähigkeit und Vielfalt in Solidarität zu verwandeln. Unsere Literatur dient als Archiv der Kämpfe, der Vorstellungskraft und der Identität unserer Nation.

Und können Sie auch spezifische Mängel benennen?

Die philippinische Literatur stößt im Ausland und sogar im eigenen Land auf Hindernisse in Bezug auf Sichtbarkeit und Reichweite, was hauptsächlich auf die sprachliche Fragmentierung, eine sich noch entwickelnde Verlagsbranche und die Herausforderungen bei der Übersetzung aus derart vielen Muttersprachen zurückzuführen ist. Es gibt eine Fülle von Geschichten, aber die Ressourcen für eine nachhaltige Veröffentlichung, kritische Auseinandersetzung und internationale Bekanntheit befinden sich noch in der Entwicklung. Verlagsinitiativen und Übersetzungen für den lokalen Markt sind nach wie vor schwer zu skalieren, weshalb externe Sichtbarkeit und interne Verbreitung nicht immer der Tiefe und den Möglichkeiten unserer literarischen Vorstellungskraft gerecht werden.

Wer sind Ihre eigenen Lieblingsautoren?

José Rizal war schon immer mein wichtigster literarischer Einfluss und meine Inspiration. Seine literarischen Werke bestärken mich in meinem Engagement für die kulturelle Diplomatie der Philippinen. Seine Worte haben nicht nur das Bewusstsein der Filipinos geweckt, sondern inspirieren auch heute noch zu Widerstand und Aufklärung. Während viele meiner Landsleute Rizals Romane kennen und ver­ehren, fühle ich mich besonders zu seinem bereits erwähnten Gedicht „A Las Flores de Heidelberg“ hingezogen. Die Art und Weise, wie Rizal darin die Blumen entlang des Neckars nutzt, um seinen Patriotismus, seine Sehnsucht nach der Heimat und die Hoffnung auszudrücken, dass seine Opfer eines Tages in der Erneuerung und dem Aufstieg unserer Nation Erfüllung finden werden, findet bei mir großen Anklang. Ich nehme mir oft Zeit, um die Schönheit dieses Gedichts bei Zusammenkünften, die ich veranstalte, und manchmal auch bei Vorträgen, an denen ich teilnehme, zu teilen und andere zu ermutigen, sich auch in seine Bedeutung zu vertiefen, damit die Sehnsucht und Hoffnung, die in jedem Wort des Gedichts zum Ausdruck kommen, uns daran erinnern, dass wir unsere Heimat in uns tragen, wohin auch immer uns unsere Wege führen mögen.

Loren Legarda, geboren 1965, ausgebildete Journalistin, ist in mittlerweile vierter Amtszeit gewählte Senatorin der Philippinen und die treibende politische Kraft hinter dem Ehrengastauftritt ihres Landes.

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