Wirtschaft

Selenskyj zeigt sich ungeschützt: Wahlen in der Ukraine trotz Krieg? | ABC-Z

Der amerikanische Präsident Donald Trump hat in seinem Interview mit dem Nachrichtenportal „Politico“ abermals Neuwahlen in der Ukraine gefordert. Das Land sei „an einen Punkt gekommen zu sein, an dem es keine Demokratie mehr gibt“, da keine Wahlen stattfinden. „Ich denke, es ist ein wichtiger Zeitpunkt, um Wahlen abzuhalten“, sagte Trump. Er suggerierte zudem, dass der ukrainische Staatschef Wolodymyr Selenskyj illegitim im Amt sei. Es war nicht das erste Mal, dass Trump den ukrainischen Präsidenten kritisierte. Schon kurz nach seinem Amtsantritt im Januar hatte er Selenskyj als „Diktator“ bezeichnet.

Bisher hatte Kiew die Forderung nach Neuwahlen, wie sie auch Moskau schon mehrfach erhoben hat, mit dem Verweis auf das Kriegsrecht zurückgewiesen. Am Dienstagabend sprach Selenskyj dann über Wahlen in Kriegszeiten. „Ich persönlich habe den Willen und die Bereitschaft dazu“, sagte der Präsident vor ukrainischen Journalisten.

Warum erklärt Selenskyj jetzt seine Bereitschaft, Wahlen abzuhalten?

Mit seiner Aussage verstärkt Trump abermals den Druck auf Selenskyj. Dieser kann es sich nicht leisten, die USA als Verbündeten im Abwehrkampf gegen Russland zu verlieren. Seit Trumps Amtseinführung Anfang des Jahres hat die Ukraine auch deshalb allen von den Amerikanern vermittelten Vorschlägen zu einem Waffenstillstand zugestimmt, während Russland alle abgelehnt hat.

Trump übernimmt mit seinen Aussagen eine Erzählung Putins, der seit Ablauf der regulären Amtszeit Selenskyjs im Frühjahr 2024 immer wieder behauptet, der ukrainische Präsident sei nicht rechtmäßig im Amt und deshalb kein legitimer Verhandlungspartner. Außerdem verbindet Trump mit Selenskyj die Erinnerung an sein erstes Amtsenthebungsverfahren im Jahr 2019. Damals ging es darum, dass Trump vom ukrainischen Präsidenten „Beweise“ für vermeintliche korrupte Machenschaften des Demokraten Joe Biden und dessen Sohn Hunter in der Ukraine verlangt hatte.

Was schlägt Selenskyj vor?

Die Ukraine könnte trotz Kriegsrechts zu Wahlen bereit sein, wenn die Vereinigten Staaten und Europa dazu beitrügen, die Sicherheit im Land zu gewährleisten. „Ich bitte jetzt offen darum, dass die USA mir helfen“, sagte Selenskyj am Dienstag. „Gemeinsam mit unseren europäischen Partnern können wir die für die Durchführung von Wahlen erforderliche Sicherheit gewährleisten. Wenn das geschieht, wird die Ukraine in den nächsten 60 bis 90 Tagen bereit sein, Wahlen abzuhalten.“

Schon in den Wochen zuvor war Selenskyj von der bisherigen Linie abgewichen, erst nach Kriegsende wählen zu lassen, und hatte Wahlen nach einem Waffenstillstand in Betracht gezogen. Konkret forderte er nun das Parlament auf, Gesetzesänderungen vorzubereiten, die Wahlen während des Kriegsrechts ermöglichen. „Ich warte auf Vorschläge unserer Partner, erwarte Anregungen von unseren Gesetzgebern und bin bereit, zur Wahl zu gehen“, sagte Selenskyj.

Warum gibt es in der Ukraine zurzeit keine Wahlen?

In Friedenszeiten hätten in der Ukraine im Herbst 2023 Parlamentswahlen und im Frühjahr 2024 Präsidentenwahlen stattfinden müssen. Wahlen sind in der Ukraine jedoch ausgesetzt, solange dort Krieg herrscht; das ist nicht unüblich und zum Beispiel auch in Deutschland so geregelt. In der ukrainischen Verfassung heißt es dazu in Artikel 83: „Falls die Amtszeit der Werchowna Rada (also des Parlaments, d. Red.) während des Kriegsrechts ausläuft, werden ihre Vollmachten bis zu dem Tag verlängert, an dem die nach Aufhebung des Kriegsrechts oder Ausnahmezustandes gewählte Werchowna Rada ihre erste Sitzung einberuft.“

Welche Schwierigkeiten gibt es bei Wahlen im Krieg?

Wahlen in Kriegszeiten werfen in der Ukraine vor allem drei Probleme auf. Das erste ist, wie sich unter feindlichem Beschuss ein Wahlkampf mit Kundgebungen und Versammlungen sowie eine freie Abstimmung organisieren lässt. Russland bombardiert erbarmungslos die ukrainische Zivilgesellschaft. Immer wieder werden Drohnen, Raketen und Bomben gezielt in Menschenansammlungen gelenkt.

Zweitens leben in den russisch besetzten Gebieten der Ukraine Schätzungen zufolge drei bis sechs Millionen Ukrainer, die dann nicht abstimmen können. Kiew sieht das bisher als unvereinbar mit den Anforderungen an freie, gleiche und geheime Wahlen an.

Schließlich bleibt die Frage, wie die zurzeit aktiven ukrainischen Soldaten sicher an Wahlen teilnehmen können. Das könnte bis zu einer Million Armeeangehörige betreffen. Dabei es vor allem um die Möglichkeiten zur Identitätsprüfung, Manipulationsschutz und Auszählungsprobleme. Zudem besteht die allgegenwärtige Gefahr der Einflussnahme, Störung und Manipulation von Wahlen durch Russland.

Wollen die Ukrainer überhaupt bald wählen?

Nein. In Umfragen des Kiewer Internationale Institut für Soziologie (KIIS) gaben zuletzt zwei Drittel der Ukrainer an, dass es Wahlen erst nach einem vollständigen Ende des Krieges und nach einem Friedensabkommen geben soll. 22 Prozent der Befragten befürworteten im September Wahlen nach einem Waffenstillstand mit Sicherheitsgarantien. Selbst unter den Ukrainern, die Präsident Selenskyj überhaupt nicht vertrauen, sind lediglich 29 Prozent dafür, noch vor Kriegsende Wahlen abzuhalten.

Hat Selenskyj Chancen, die Präsidentenwahlen zu gewinnen?

Dem Kiewer Meinungsforschungsinstitut Info Sapiens zufolge würden nur 20,3 Prozent der Ukrainer bei Wahlen für Selenskyj stimmen. Die Daten wurden im Herbst nach dem Korruptionsskandal im Energiesektor erhoben. Auch das KIIS ermittelte in einer Umfrage davor, dass nur ein Viertel der Ukrainer der Meinung ist, dass Selenskyj nach dem Krieg im Amt bleiben sollte; 41 Prozent wünschten sich jedoch, dass er in der Politik bleibt.

Unabhängig davon ist Selenskyj nach wie vor der beliebteste Kandidat und hat hohe Zustimmungswerte. Im Oktober erklärten 60 Prozent der Befragten in einer KIIS-Umfrage, Selenskyj zu vertrauen, 35 Prozent taten das nicht. Damit liegt er knapp vor dem früheren ukrainischen Oberbefehlshaber Walerij Saluschnyj, der heute Botschafter seines Landes in Großbritannien ist. Saluschnyj gilt als aussichtsreichster Herausforderer Selenskyjs, lässt aber bisher offen, ob er zu einer Kandidatur bereit ist. Selenskyj wiederum hatte im September gesagt, es sei sein vorrangiges Ziel, den Krieg zu beenden und nicht für eine zweite Amtszeit zu kandidieren.

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