Seine Angst war größer als sein Hass auf Putin | ABC-Z
Solche Anrufe sind an sich nicht besonders ernst, denn man ist zu nichts verpflichtet, solange man einen Brief des Militärs nicht per Einschreiben erhalten und quittiert hat. Gleb lebte nicht an der Adresse, an der er gemeldet war, sondern in einem anderen Teil von St. Petersburg. Die Behörden hätten ihn also erst einmal finden müssen, um ihm einen Musterungsbescheid zuzustellen.
Und doch war da immer diese Angst. Andere Männer waren von den Häschern des Regimes in der U-Bahn gegriffen worden, an Bushaltestellen, auf der Straße. Was, wenn sie auch ihn erwischten? Jeder Gang zum Supermarkt konnte gefährlich sein. Gleb leidet unter chronischem Asthma, was ihn laut Gesetz eigentlich vom Wehrdienst befreit.
Aber was bedeutet schon das Gesetz in Russland, wenn man kein Geld hat für einen Anwalt? „Ich fürchtete, dass die ohnehin schlecht funktionierenden Gesetze in Russland im Kriegszustand vollkommen außer Kraft gesetzt würden – und dass ich keine Chance hätte, der Armee, dem Gefängnis oder staatlichen Repressalien zu entkommen“, schildert Gleb seine damalige Lage in Petersburg.
Gleb und seine Frau hatten eine Weile in Odessa gelebt und dort so etwas wie eine Seelenheimat gefunden. Odessa: eine Stadt, in der Russisch gesprochen wird, wo die Menschen aber keine Angst haben, öffentlich zu sagen, was sie denken – das gibt es in Russland nicht mehr. Die Ukraine war ihnen seither als eine Art besseres Russland erschienen. Als ein Land, das so war, wie ein freies Russland einmal sein könnte.
„Wir mussten weg“
Obwohl sie Russlands Präsidenten verabscheuen – Gleb spricht von Putin nur als „Gangster“, „Perversem“, „Bastard“ oder „Teufel“ und bezeichnet es als seinen Herzenswunsch, dass jemand ihn töten möge –, nahmen sie nicht an den Demonstrationen gegen den Krieg teil, die unmittelbar nach dem russischen Überfall auf die Ukraine auch in Petersburg stattfanden. Sie hatten Angst, verhaftet zu werden. Für ihn und seine Frau Anja stand damals fest: „Wir mussten weg. Wir waren nicht bereit, unsere Freiheit, unsere Sicherheit und unsere psychische Gesundheit zu riskieren, indem wir in Russland blieben.“
Heute habe er deshalb oft ein schlechtes Gewissen, sagt Gleb. Er hätte schließlich in Russland bleiben, sich den Protesten anschließen können. „Manchmal empfinde ich es so, als hätte ich mein Land seinem Untergang überlassen, nur um mich zu retten.“ Aber die Angst, Russland nicht mehr verlassen zu können, war größer als der Hass auf Putin und den Krieg seiner russischen Landsleute gegen die Ukraine.
So begann für Gleb Puschew, seine Frau und deren halbwüchsigen Sohn aus erster Ehe fast zweitausend Kilometer südwestlich von Petersburg ein neues Leben. Wenige Tage nach Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine, als russische Panzer auf Kiew zurollten, kam die Familie in Belgrad an. Es gab mehrere Gründe dafür, dass ihre Wahl auf Serbiens Hauptstadt fiel, auch ganz pragmatische.
Da Serbien die Sanktionen gegen Russland nicht mitträgt, bietet die Fluglinie Air Serbia weiterhin täglich Direktflüge von Moskau, Petersburg und anderen russischen Städten aus nach Belgrad an. Und dann war da die kulturelle Nähe zwischen Serben und Russen. Die Sprache, die Orthodoxie, das kyrillische Alphabet. „Wir haben hier kulturelle Bezugspunkte, wir können Jugoslawien und die Sowjetunion vergleichen, wir fühlen eine Verbindung“, sagt Gleb.
Außerdem spielte Geld eine Rolle. In Belgrad hatte die Familie eine russische Freundin, bei der sie für den Anfang unterkommen konnten. Gleb ist Graphic Novelist, er zeichnet Comicromane. Auch die Illustrationen zu diesem Text stammen von ihm. Sein erstes Buch ist gerade in Frankreich erschienen. Gleb liebt seinen Beruf, aber sonderlich einträglich war der bisher nicht. In Petersburg verkaufte er seine Arbeiten mit wechselndem Erfolg. Mal verdiente er 18.000, mal 30.000 Rubel im Monat, das waren vor Kriegsbeginn zwischen 200 und 350 Euro.
Das reichte nicht zum Leben, denn auch Glebs Frau, eine politisch aktive Künstlerin und Literaturwissenschaftlerin, hatte Probleme bei der Jobsuche. Sie nahmen Kredite auf, liehen sich Geld bei Freunden, lebten von der Hand in den Mund. Als sie dann aus Russland fliehen mussten, wurde Serbien auch deshalb zur Option, weil Russen für das Land kein Visum benötigen, also kostenlos einreisen können. „Wie kann man aus Russland fortgehen, nur um in einem Land zu leben, dessen Bevölkerung verrückt nach Putin ist?“, fragen ihn manche. Gleb sagt dazu: „Wer so etwas sagt, versteht vielleicht nicht wirklich, was es bedeutet, mit wenig Geld in ein anderes Land zu gehen.“
„Es fällt vielen Serben schwer zu akzeptieren, dass Putin ein Bastard ist“
Anfangs lebte die Familie in einer kleinen Wohnung am südlichen Rand der Stadt, wo Belgrad in sich zusammensinkt und langsam versickert, bevor es in eine grüne Hügellandschaft mündet. Die Wohnung war eine Bruchbude, nur der Balkon war schön, Weinreben rankten sich um das Geländer. Anja und Gleb knüpften Kontakt zum politisch aktiven Teil der rasch wachsenden russischen Diaspora in Belgrad. Sie nahmen an Demonstrationen gegen den russischen Krieg teil, organisierten oppositionelle Veranstaltungen, malten Graffiti zur Unterstützung der Ukraine.
Das stieß auf Unverständnis bei manchen Einheimischen. „Wir sagen zu den Serben, dass Putin nicht Russland ist, sondern schlicht ein Massenmörder. Manche sind dann verwirrt, andere reagieren aggressiv. Ein Serbe fing an, mich auf Russisch zu beschimpfen“, erinnert sich Gleb. „Er sagte mir, dass ich lüge und nicht aus Petersburg sei, sondern aus der Ukraine. Es fällt vielen Leuten in Serbien schwer zu akzeptieren, dass Putin ein Bastard ist.“
Freundlich und zugewandt, frech und energisch
Er verstehe das, sagt Gleb. „Die Serben, die Putin lieben, lieben ihn aus der Ferne. Sie waren nie direkt mit den Auswirkungen seiner Politik konfrontiert, für die ich ihn hasse. Sie glauben der russischen Propaganda und denken, Putin sei ein edler Ritter, der die NATO und die USA für ihre Sünden bestraft, auch im Namen der Serben.“ Die meisten Serben, die er getroffen habe, seien freundlich und zugewandt, sagt Gleb. „Ich mag ihre vitale Frechheit, ihre kämpferische Energie.“
Doch leider ließen sich viele Serben von Putins Propaganda täuschen. Es klinge womöglich arrogant, kommentiert er sich selbst, aber vielleicht habe Gott ihn an diesen Ort geschickt, um dazu beizutragen, dass die Menschen in Serbien die Wahrheit erfahren. Aus dem Munde fast jedes anderen Menschen klänge dieser pathetische Satz tatsächlich vermessen, aber wer länger mit Gleb spricht, wird das schwerlich so empfinden. Er ist bescheiden, reflektiert, selbstkritisch, strahlt eine hohe moralische Ernsthaftigkeit aus.
Natürlich hat die Offenheit, mit der er als Russe in Serbien Putins Russland und die Nähe der serbischen Regierung zum Kreml kritisiert, ihren Preis. Ein überlebensgroßes Porträt der ukrainischen Dichterin Lessja Ukrajinka, das Anja und Gleb unweit des ikonischen Belgrader Hotels „Moskva“ an eine Wand malten, wurde mehrfach zerstört. Das Ehepaar wurde bedroht, es gab anonyme Warnungen im Netz. Gleb ist inzwischen vorsichtiger als früher. Die Wohnung am Stadtrand hat die Familie verlassen, die neue Adresse möchte er lieber nicht nennen.
Wir treffen uns in einem verrauchten Café, in dem außer Serbisch auch viel Russisch gesprochen wird. Die russische Diaspora in Serbien sei von Geheimdienstmitarbeitern durchsetzt, argwöhnt Gleb. Er erzählt von Belgrader Russen, die ständig zurück nach Russland reisen. Natürlich muss das nicht bedeuten, dass sie deshalb Spitzel seien. Aber weiß man es in jedem Fall? Was tun diese Pendler in Moskau, wen treffen sie, was und wem berichten sie? Er habe sich vielleicht eine gewisse Paranoia angeeignet, gesteht Gleb, der vermutet, dass er unwissentlich selbst schon mit russischen Agenten zu tun gehabt habe, die sich als Antikriegsaktivisten ausgeben und in der russischen Diaspora Belgrads als scheinbare Putin-Gegner auftreten. „Also versuche ich, meine Familie und mich zu schützen und immer wachsam zu bleiben, ohne dabei den Verstand zu verlieren.“
Er nehme Anrufe von unbekannten Nummern nicht an, lade niemanden nach Hause ein und versuche, allem mit Misstrauen zu begegnen. Andererseits sieht er die Aufmerksamkeit gewisser Dienste auch als Auszeichnung. „Hier in Serbien drohen kremltreue Faschisten meiner Frau und mir mit einer Auslieferung nach Russland – aber mir gefällt das Gefühl, dass sie mich zur Kenntnis nehmen müssen und mich nicht mögen.“
Gewaltsame Übergriffe auf russische Oppositionelle
Dass russische Dienste in Serbien äußerst aktiv sind, bestreitet auch die serbische Regierung nicht, im Gegenteil. Der stellvertretende serbische Ministerpräsident Aleksandar Vulin war zuvor Chef von Serbiens Geheimdienst BIA. Seine Bewunderung für Russland stellt er offen zur Schau. Die USA haben Sanktionen gegen Vulin verhängt. Sie werfen ihm vor, in die organisierte Kriminalität verwickelt zu sein, insbesondere in den Handel mit Waffen und Rauschgift. Vulin habe Russland als Geheimdienstchef „eine Plattform geboten, um seinen Einfluss in der Region weiter auszubauen“, heißt es aus Washington.
Als wollte er beweisen, wie zutreffend diese Darstellung ist, reist Vulin regelmäßig nach Russland, zuletzt zweimal im Oktober. Auf der ersten Reise traf er Alexandr Bortnikow, den Leiter des russischen Inlandsgeheimdiensts FSB, sowie Sergej Naryschkin, den Chef des Auslandgeheimdiensts SWR. Bei den Gesprächen sei es um einen Ausbau der Kooperation zwischen den Geheimdiensten beider Länder gegangen, hieß es dazu aus Belgrad.
Den Medien wurde mitgeteilt, Bortnikow habe sich bei Vulin persönlich für dessen Verdienste bei der Verbesserung der Geheimdienstkooperation zwischen Moskau und Belgrad bedankt. Von Naryschkin heimste Vulin ein ähnliches Lob ein. Bei einer weiteren Reise im Oktober traf Vulin mit Putin zusammen. In der russischen Diaspora Belgrads geben sich viele Gesprächspartner sicher, dass eine Serie gewaltsamer Übergriffe auf oppositionelle Russen in Serbien auf Geheiß Vulins geschah.
Da ist zum Beispiel der Fall des inzwischen in Deutschland lebenden Aktivisten Ilija Zernow. Der kam 2022 als Achtzehnjähriger völlig mittellos nach Belgrad und schlug sich mit Gelegenheitsjobs durch. Im vergangenen Jahr wurde er von Hooligans überfallen, als er dabei war, ein Graffito mit der Aufschrift „Tod der Ukraine“ zu übermalen. Die Täter inszenierten eine Scheinhinrichtung, fotografierten ihn, schlugen ihn krankenhausreif. Ein russisch-ukrainisches Paar wurde in einem Belgrader Vorort verprügelt, ein Treffen russischer Oppositioneller von maskierten Gewalttätern gestürmt.
Subtile Methoden
Doch gewaltsame Übergriffe sind die Ausnahme. Der serbische Staat hat eine stillere, aber umso wirksamere Methode zur Disziplinierung aufmüpfiger Emigranten. Wie das funktioniert, musste die schon vor mehr als fünf Jahren mit ihrem Ehemann und zwei Söhnen aus Petersburg eingewanderte Literaturübersetzerin Elena Koposowa erfahren. Koposowa hat unter anderem Doris Lessing und Annie Proulx aus dem Englischen ins Russische übertragen.
Zu Beginn dieses Jahres wurde ihr mitgeteilt, dass sie als Risiko für die nationale Sicherheit Serbiens eingestuft worden sei. Ihre Aufenthaltserlaubnis wurde widerrufen. Sie erhielt die polizeiliche Anweisung, Serbien binnen 30 Tagen zu verlassen. Ihr Vergehen: Sie hatte mit gut zwei Dutzend weiteren russischen Emigranten in Serbien einen Appell unterschrieben, der mit dem Satz endete: „Ruhm der Ukraine, Tod dem Faschismus, Putin ist nicht Russland, Russland wird frei sein.“
Erst nachdem ihr Fall international Aufsehen erregt und sich der Schriftstellerverband PEN für sie eingesetzt hatte, wurde der Ausweisungsbescheid aufgehoben. Administrative Schikanen dieser Art haben auch andere oppositionelle russische Emigranten in Serbien erfahren. Manchen wird die Aufenthaltsgenehmigung entzogen oder nicht verlängert, andere werden am Belgrader Flughafen an der Einreise gehindert. Die Botschaft: Es kann jeden treffen, der sich öffentlich gegen Putin ausspricht.
„Ich denke, dass ich einige Menschen zum Nachdenken bringen konnte“
Das beunruhigt alle sehr“, beschreibt Gleb die Wirkung solcher Maßnahmen auf den oppositionellen Teil der russischen Diaspora in Belgrad. „Die russischen Demonstrationen gegen den Krieg sind kleiner, seltener und vorsichtiger geworden.“ Insbesondere für jene Russen, die ohne viel Geld nach Serbien kamen, kann ein öffentliches Engagement gegen Putin schwere Folgen haben.
„Jeder Emigrant in Serbien hat wahrscheinlich viel Geld ausgegeben, um es nach Serbien zu schaffen. Manche eröffnen hier Geschäfte, andere haben ihre Wohnung in Russland verkauft, um in Serbien ein Startkapital zu haben. Die Leute haben Angst, und das ist bitter.“ Auch Gleb hat seine öffentliche Tätigkeit eingeschränkt, sich zuletzt vor allem auf seine Arbeit konzentriert.
Seine Erfahrungen und Begegnungen in Serbiens Hauptstadt verarbeitet er in einer Serie von Comics mit Belgrader Motiven, von denen er einige ins Netz stellt. In Gesprächen mit Serben versucht er weiterhin unermüdlich zu erklären, dass Putin kein Held sei, sondern der schlimmste Feind der Ukrainer und der Russen. Bei vielen Serben löse es Erstaunen aus, wenn er so etwas sage. „Sie scheinen das von einem Russen nicht zu erwarten. Ich denke, dass ich einige Menschen zum Nachdenken bringen konnte.“
Es ekele ihn zwar an, wenn er in Belgrader Souvenirläden Kaffeetassen und T-Shirts mit Putin-Porträts oder Z-Symbolik sehe. Aber er hoffe, dass die Menschen, die solchen Unrat verkaufen, schlicht nicht verstünden, was sie tun. Denn eigentlich mag Gleb Belgrad und die Menschen der Stadt. „Belgrad ist großartig! Diese Stadt ist brutal, schmutzig und schön. Sie hat einen Rhythmus, der Härte und Sanftheit vereint.“
Gleb will mit seinen Comics und mit seiner Überzeugungsarbeit dazu beitragen, dass mehr Menschen in seiner neuen Heimat das wahre, grausame Gesicht des russischen Diktators erkennen. Und er weiß, dass er nicht allein ist. Einmal, Gleb und seine Frau waren noch nicht lange in Belgrad, sahen sie bei einem Spaziergang an einer Hauswand ein großes Putin-Porträt mit der kyrillischen Aufschrift „Brat“. Das heißt auf Serbisch wie auf Russisch „Bruder.“ Sie erschraken. Das Bild sei wie ein düsterer Gruß des russischen Faschismus mitten in Belgrad gewesen.
Doch einige Nächte später hatte jemand den ersten Buchstaben des Wortes „Brat“ übermalt. Nun stand da nur noch „rat“ neben Putin. Auf Englisch wurde Russlands Herrscher so zur Ratte. Im heutigen Russisch wird das Wort „rat“ nicht mehr verwendet. Auf Serbisch heißt es „Krieg“.