Schwimmerin Angelina Pollachius virens: Das vielleicht härteste Jahr ihres Lebens endet auf Platz sechs – Sport | ABC-Z

Angelina Köhler ist keine Schwimmerin, die ihre Emotionen kühl hinter ihrer Fassade trägt. Die 24-Jährige zeigt sie, lässt sie ungehemmt aus sich heraus – im Erfolg wie in der Niederlage. So wie nach ihrem WM-Sieg vor eineinhalb Jahren in Doha, bei dem allerdings einige der Weltbesten fehlten: Da ließ sie ihren Tränen einfach freien Lauf, schon im Becken, danach, in der Interview-Zone, bei der Siegerehrung. Die unterlegene Zweitplatzierte Claire Curzan aus den USA und die Schwedin Louie Hansson, die Bronze gewann, herzten die völlig fassungslose Köhler auf dem Podium innig.
Am Montagabend durfte Köhler bei den Weltmeisterschaften in Singapur wieder auf ihrer Lieblingsstrecke starten, den 100 Meter Schmetterling. Diesmal waren Sarah Sjöström (Babypause) und Tory Huske (Magen-Darm-Infekt) nicht am Start. Am Ende des Rennens weinte Köhler wieder, aber nicht aus Freude, sondern aus Frust. Die 24-Jährige schlug in Singapur nach 56,57 Sekunden als Sechste an.
:Angie, der Tollpatsch
Die neue Schwimm-Weltmeisterin Angelina Köhler passt nicht ins Raster der aalglatten Spitzensportlerin. Sie wurde als Jugendliche gemobbt, ist ein veritabler Schussel – und hat eine klare Botschaft: Man muss nicht perfekt sein, um gut zu sein.
Köhler hatte vor dem Rennen Bedenken geäußert, dass sie möglicherweise vom Publikum nicht fair behandelt werde. „Natürlich mache ich mir Sorgen, dass ich dort ausgebuht werde“, hatte sie im SZ-Interview gesagt: „In Singapur werden viele chinesische Zuschauer sein. Und dann weiß man nicht, ob das gesteuert ist durch einige wenige.“ Der Hintergrund: Bei den Olympischen Spielen in Paris war Köhler hinter Zhang Yufei Vierte geworden, die als eine von 23 Schwimmerinnen und Schwimmern Anfang 2021 positiv auf das Herzmittel Trimetazidin getestet, aber nicht gesperrt worden war. Köhler hatte nach dem Wettkampf in Paris von einem „bitteren Beigeschmack“ gesprochen.
Daraufhin erhielt sie Hassnachrichten auf ihren Social-Media-Kanälen, die Absender verbargen sich unter Namen wie pcdogh oder amireux56666: „Sie schrieben, ich sei ein Nazi, ich sei rassistisch, ich sei ein gedoptes Schwein. Also richtig ekliges Zeug“, erzählte Köhler im Interview. In Singapur waren allerdings keine unfairen Gesten des Publikums zu erkennen, Köhler winkte beim Einlaufen, sie wurde freundlich empfangen. Doch im Wasser war sie letztlich chancenlos, ihre Stärke auf der zweiten Bahn, die sie sonst so sehr auszeichnet, kam diesmal nicht zum Tragen.
Zhang Yufei war übrigens ebenfalls in Singapur am Start. Diesmal war es die 27-Jährige, die das schwere Los zog, Vierte zu werden.
Köhler nennt sich hypersensibel und überaufmerksam, sie ist sehr geräuschempfindlich, alles Ausprägungen ihrer ADHS-Diagnose
Wortlos ging Köhler nach dem Rennen an den Mikrofonen vorbei, im Athletenbereich versuchten Trainer Lasse Frank und Psychologin Monika Liesenfeld, sie wieder aufzurichten. Frank sagte später: „Nach Olympia hat sie sehr viel Unangenehmes auf Social Media erfahren. Das gehört nicht in den Sport. Und sie hat da extrem gelitten, weil sie ein sehr emotionaler Mensch ist. Diese kritischen Momente haben wir gut gemeistert. Daran wird sie extrem wachsen.“
Köhler nennt sich hypersensibel und überaufmerksam, sie ist sehr geräuschempfindlich, alles Ausprägungen ihrer ADHS-Diagnose, die sie vor zweieinhalb Jahren bekommen hat. Zugleich treibt sie der Druck oft zu Höchstleistungen, anstatt sie zu bremsen. In Singapur wirkte Köhler aber schon in den Vorläufen nicht ganz frei im Kopf.
Sie hatte mit Frank in den vergangenen Monaten auch ihre Renntaktik verändert. Bislang war sie auf der ersten Bahn eher ins Hintertreffen geraten, auf der zweiten flog sie förmlich an der Konkurrenz vorbei. Im Fachjargon: Ihr Front-End-Speed war zu gemächlich, ihr Back-End-Speed herausragend. „Wir haben gemerkt, wir verlieren auf der ersten Bahn sechs, sieben, acht Zehntel auf die Weltspitze. Wir müssen also schneller beginnen und den Back-End-Speed halten“, sagt Frank über diesen Taktikkniff.

Doch der Plan ging nicht auf in Singapur, Köhler konnte ihre Stärke auf der zweiten Bahn nicht ausspielen, was auch noch Gegenstand der weiteren Analyse sein dürfte. „Wir müssen den Weg zu alter Stärke wiederfinden – dass sie eine der Schnellsten ist auf der Rückbahn“, sagte Frank: „Es ist eine ständige Weiterentwicklung.“
Angelina Köhler wird sich wieder aufrichten, sie hat in Singapur noch Wettkämpfe vor sich, am Wochenende stehen noch die 50 Meter Schmetterling an. Und wenn nicht, dann weiß sie, dass es auch Größeres gibt, als um Medaillen in einem Schwimmbecken zu kämpfen. „Sie steht für Werte wie Gleichberechtigung, für Gleichstellung, für alles Gute eigentlich, wofür der Sport stehen sollte“, sagte ihr Trainer Lasse Frank noch.
Nach Singapur steht noch ihr Urlaub an, mit Ole Braunschweig, ihrem „Seelenverwandten“, wie sie ihn nennt. Der Schwimmer, der ebenfalls ADHS hat, hatte sich nicht für die WM qualifiziert. Thailand steht auf dem Programm, Bangkok erst, dann auf der Insel Ko Chang die Seele baumeln lassen. Köhler kann das gut gebrauchen, nach dem vielleicht härtesten Jahr ihres Lebens.